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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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Brockhaus). Die Fragmente, welche Varnhagen in den Grenz boten von
1846 veröffentlichte, werfen ein schärferes Licht auf den innern Kern seines
Charakters, als seine Briefe und seine Bücher. -- In dem neu Hinzugckom-
mencn ist Vieles freilich sehr langweilig und unerquicklich (Gentz selber urtheilte
nicht anders): Aufzählung aller seiner Diners, Soupers und Visiten, Auf¬
zählung des gcscnnmtcn hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums,
das daran Theil nahm; aber es ist auch vieles sehr Bedeutende darunter,
und auch das weniger Interessante gibt uns den chronologischen Knochenbau,
ohne den alle Geschichte ihren Halt verliert.

Bekanntlich hing es mit jenen Tagebüchern so zusammen. Gentz führte
sie mit äußerster Regelmäßigkeit seit 1800: Tag für Tag wurde Alles, was
passirte, französisch, kurz, aber doch mit prägnanten Gefühlsausdrücken, wie sie
der Augenblick eingab, aufgezeichnet. Einer von Gentz' größten Vorzügen war
seine außerordentliche Offenherzigkeit: es war ihm Gude und Bedürfniß, sich
über jeden Moment rein und vollständig auszusprechen, sich gewissermaßen
auszuschütten. Das ist noch nicht Wahrheit: eben so lebhaft, wie er hente
die eine Sache versieht, nimmt er sich morgen der entgegengesetzten an; eben
so leidenschaftlich, wie er Amalia liebt, schwärmt er denselben Tag für Christel,
und anch wohl noch für eine Zweite und Dritte; von dem, was später geschieht,
gar nicht zu reden. Eine reich begabte und keineswegs leere Persönlichkeit,
ist er jedem starken Eindruck bis zu einem gewissen Grad unterworfen; er
hat einen mächtigen Trieb zu lieben, zu bewundern, begeistert, kurz -- außer
sich zu sein. Er lügt seine Empfindungen den Andern nicht vor: Zeuge sein
Tagebuch, das doch für keinen Andern bestimmt war, und in dem man mit¬
unter warme Thränen zu empfinden glaubt. Die Stärke der Aufwallung verbürgt
noch nicht ihren Werth: das stärkste Gefühl, das in diesen Blättern sich aus¬
spricht, ist das des funfzigjährigen Mannes für -- einen Knaben.--

Aber solche Stärke des jedesmaligen Aufwallens, solche Offenherzigkeit der
Ergießung macht Männer, wenn sie nur sonst Person genug besitzen, unwidersteh¬
lich, und wir begreifen seine Erfolge bei Prinzessinnen und Tänzerinnen -- von den
Göttinnen unterster Ordnung ganz zu schweigen -- vollkommen. Auch seine Er¬
folge bei Diplomaten. Seine politische Weisheit -- auch in seinen besten Zeiten ^
war nicht weit her; aber das Feuer, mit dem er sie (oft einen Tag, eine Stunde
vorher gelernt!) den Staatslcnkern vortrug, die in ihrer stumpfen Blasirtheit
davor gewissermaßen erschraken, wirkte unwiderstehlich -- d. h. es wirkte nicht
so viel, daß sie anders handelten, als sie auch sonst ungefähr gehandelt lM'
ten; aber daß sie den leidenschaftlich geistreichen Mann anstaunten und ihn
-- da er seiner Geburt wegen für ein höheres Staatsamt sich nicht qualisicirte
-- mit dem überhäuften, was, wenn man will, sein Leben oder sein Spiel-
zeug war: mit den Mitteln zu einem raffinirten Luxus. Im Jahr 1314 ve-


Brockhaus). Die Fragmente, welche Varnhagen in den Grenz boten von
1846 veröffentlichte, werfen ein schärferes Licht auf den innern Kern seines
Charakters, als seine Briefe und seine Bücher. — In dem neu Hinzugckom-
mencn ist Vieles freilich sehr langweilig und unerquicklich (Gentz selber urtheilte
nicht anders): Aufzählung aller seiner Diners, Soupers und Visiten, Auf¬
zählung des gcscnnmtcn hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums,
das daran Theil nahm; aber es ist auch vieles sehr Bedeutende darunter,
und auch das weniger Interessante gibt uns den chronologischen Knochenbau,
ohne den alle Geschichte ihren Halt verliert.

Bekanntlich hing es mit jenen Tagebüchern so zusammen. Gentz führte
sie mit äußerster Regelmäßigkeit seit 1800: Tag für Tag wurde Alles, was
passirte, französisch, kurz, aber doch mit prägnanten Gefühlsausdrücken, wie sie
der Augenblick eingab, aufgezeichnet. Einer von Gentz' größten Vorzügen war
seine außerordentliche Offenherzigkeit: es war ihm Gude und Bedürfniß, sich
über jeden Moment rein und vollständig auszusprechen, sich gewissermaßen
auszuschütten. Das ist noch nicht Wahrheit: eben so lebhaft, wie er hente
die eine Sache versieht, nimmt er sich morgen der entgegengesetzten an; eben
so leidenschaftlich, wie er Amalia liebt, schwärmt er denselben Tag für Christel,
und anch wohl noch für eine Zweite und Dritte; von dem, was später geschieht,
gar nicht zu reden. Eine reich begabte und keineswegs leere Persönlichkeit,
ist er jedem starken Eindruck bis zu einem gewissen Grad unterworfen; er
hat einen mächtigen Trieb zu lieben, zu bewundern, begeistert, kurz — außer
sich zu sein. Er lügt seine Empfindungen den Andern nicht vor: Zeuge sein
Tagebuch, das doch für keinen Andern bestimmt war, und in dem man mit¬
unter warme Thränen zu empfinden glaubt. Die Stärke der Aufwallung verbürgt
noch nicht ihren Werth: das stärkste Gefühl, das in diesen Blättern sich aus¬
spricht, ist das des funfzigjährigen Mannes für — einen Knaben.--

Aber solche Stärke des jedesmaligen Aufwallens, solche Offenherzigkeit der
Ergießung macht Männer, wenn sie nur sonst Person genug besitzen, unwidersteh¬
lich, und wir begreifen seine Erfolge bei Prinzessinnen und Tänzerinnen — von den
Göttinnen unterster Ordnung ganz zu schweigen — vollkommen. Auch seine Er¬
folge bei Diplomaten. Seine politische Weisheit — auch in seinen besten Zeiten ^
war nicht weit her; aber das Feuer, mit dem er sie (oft einen Tag, eine Stunde
vorher gelernt!) den Staatslcnkern vortrug, die in ihrer stumpfen Blasirtheit
davor gewissermaßen erschraken, wirkte unwiderstehlich — d. h. es wirkte nicht
so viel, daß sie anders handelten, als sie auch sonst ungefähr gehandelt lM'
ten; aber daß sie den leidenschaftlich geistreichen Mann anstaunten und ihn
— da er seiner Geburt wegen für ein höheres Staatsamt sich nicht qualisicirte
— mit dem überhäuften, was, wenn man will, sein Leben oder sein Spiel-
zeug war: mit den Mitteln zu einem raffinirten Luxus. Im Jahr 1314 ve-


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[0292] Brockhaus). Die Fragmente, welche Varnhagen in den Grenz boten von 1846 veröffentlichte, werfen ein schärferes Licht auf den innern Kern seines Charakters, als seine Briefe und seine Bücher. — In dem neu Hinzugckom- mencn ist Vieles freilich sehr langweilig und unerquicklich (Gentz selber urtheilte nicht anders): Aufzählung aller seiner Diners, Soupers und Visiten, Auf¬ zählung des gcscnnmtcn hohen Adels und verehrungswürdigen Publicums, das daran Theil nahm; aber es ist auch vieles sehr Bedeutende darunter, und auch das weniger Interessante gibt uns den chronologischen Knochenbau, ohne den alle Geschichte ihren Halt verliert. Bekanntlich hing es mit jenen Tagebüchern so zusammen. Gentz führte sie mit äußerster Regelmäßigkeit seit 1800: Tag für Tag wurde Alles, was passirte, französisch, kurz, aber doch mit prägnanten Gefühlsausdrücken, wie sie der Augenblick eingab, aufgezeichnet. Einer von Gentz' größten Vorzügen war seine außerordentliche Offenherzigkeit: es war ihm Gude und Bedürfniß, sich über jeden Moment rein und vollständig auszusprechen, sich gewissermaßen auszuschütten. Das ist noch nicht Wahrheit: eben so lebhaft, wie er hente die eine Sache versieht, nimmt er sich morgen der entgegengesetzten an; eben so leidenschaftlich, wie er Amalia liebt, schwärmt er denselben Tag für Christel, und anch wohl noch für eine Zweite und Dritte; von dem, was später geschieht, gar nicht zu reden. Eine reich begabte und keineswegs leere Persönlichkeit, ist er jedem starken Eindruck bis zu einem gewissen Grad unterworfen; er hat einen mächtigen Trieb zu lieben, zu bewundern, begeistert, kurz — außer sich zu sein. Er lügt seine Empfindungen den Andern nicht vor: Zeuge sein Tagebuch, das doch für keinen Andern bestimmt war, und in dem man mit¬ unter warme Thränen zu empfinden glaubt. Die Stärke der Aufwallung verbürgt noch nicht ihren Werth: das stärkste Gefühl, das in diesen Blättern sich aus¬ spricht, ist das des funfzigjährigen Mannes für — einen Knaben.-- Aber solche Stärke des jedesmaligen Aufwallens, solche Offenherzigkeit der Ergießung macht Männer, wenn sie nur sonst Person genug besitzen, unwidersteh¬ lich, und wir begreifen seine Erfolge bei Prinzessinnen und Tänzerinnen — von den Göttinnen unterster Ordnung ganz zu schweigen — vollkommen. Auch seine Er¬ folge bei Diplomaten. Seine politische Weisheit — auch in seinen besten Zeiten ^ war nicht weit her; aber das Feuer, mit dem er sie (oft einen Tag, eine Stunde vorher gelernt!) den Staatslcnkern vortrug, die in ihrer stumpfen Blasirtheit davor gewissermaßen erschraken, wirkte unwiderstehlich — d. h. es wirkte nicht so viel, daß sie anders handelten, als sie auch sonst ungefähr gehandelt lM' ten; aber daß sie den leidenschaftlich geistreichen Mann anstaunten und ihn — da er seiner Geburt wegen für ein höheres Staatsamt sich nicht qualisicirte — mit dem überhäuften, was, wenn man will, sein Leben oder sein Spiel- zeug war: mit den Mitteln zu einem raffinirten Luxus. Im Jahr 1314 ve-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/292>, abgerufen am 23.07.2024.