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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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können. -- Schlimm genug, daß nur die Combination mit -Rußland offen
stand.

Man mag gegen die Theilung Polens vom Standpunkt des Völkerrechts
und der absoluten Moral einwenden, was man will: der Vorwurf, eine
Nation zerstückelt zu haben, ist. gegen Preußen 1772 erhoben, lächerlich.

Was Prof. Waitz betrifft, dessen sittliches Urtheil wir ebenso hoch ver¬
ehren als sein wissenschaftliches, so möchten wir ihm Folgendes zu bedenken
geben.

Wenn er die englischen Zeitungen liest und was sie über Schleswig-
Holstein sagen: ist das nicht etwa dasselbe, was Ouro Klopp :c. gegen die
Einnahme Westpreußens durch Friedrich den Großen sagt? -- Ein räuberischer
König will einen schwächern Staat berauben, um den Kieler Hafen. Matrosen
und das fchleswigfche Rindfleisch zur Einpökelung für die Flotte zu benutzen.
Mitleid, ihr weichen Seelen, für das arme verfolgte Dänemark!

Freilich, die Jurisprudenz! Der deutsche Bund hat Ansprüche auf Hol¬
stein -- wie auf Limburg; Holstein hat Ansprüche auf Schleswig u. s. w. --
Das ist sehr wahr; aber wir verargen es den Engländern nicht, wenn sie
hinter diese juristischen Deductionen auf die Sache zu kommen suchen. --
Rechtsansprüche waren auch mit dem,Zipser Comitat, auch mit Schlesien ver¬
bunden, und was die linguistische Seite der Sache betrifft, so steht diese noch
nicht im geschriebenen Völkerrecht. -- Das vorige Jahrhundert war darin
naiver, und Friedrich, der naivste Politiker der Zeit, in seinen Aeußerungen
sogar mitunter cynisch; aber die Aeußerungen können in letzter Instanz doch
nicht entscheiden. Die Heroen der Geschichte raisonnir.er oft sehr schlecht, aber
sie handeln zweckmäßig. -- Wenn Waitz den bekannten Ausspruch von I. Müller
anführt, so muß er sich daran erinnern, daß kein Mensch in Deutschland einen
so schmählichen moralischen Bankerott gemacht hat. als dieser moralische
Phrasendrescher, der die schönsten Sentenzen des Alterthums wol fühlte, aber
sittlich zu schwach war, um sie anders als zufällig, d. h. unter dem Einfluß
der ihm nächstliegenden starken Strömung -- auf die Wirklichkeit anzuwenden.

Daß Maria Theresia über die Zumuthung. Polen zu theilen, in sittliche
Entrüstung gerieth. war löblich, und sie hat sich schön darüber ausgedrückt.
Aber vorher hat sie das Zipser Comitat besetzt, und nachher hat sie nicht
schlecht zugegriffen. -- Nicht alle historische Wahrheit steht ans dem Papier.
Sie selbst freilich kam sich in dem Augenblick, wo sie das schrieb, wol sehr
tugendhaft vor.

Wir sind entschieden für die Anwendung der Sittlichkeit auf die Politik;
es gibt keine Gesetze, die nicht absolut gelten. Aber die sittlichen Gesetze,
auf große Verhältnisse anwendbar, liegen nicht so auf der Hand, wie die im
kleinen Verkehr. Es ist wie in der Physik: dasselbe Gesetz, nach dem wir Vom-


können. — Schlimm genug, daß nur die Combination mit -Rußland offen
stand.

Man mag gegen die Theilung Polens vom Standpunkt des Völkerrechts
und der absoluten Moral einwenden, was man will: der Vorwurf, eine
Nation zerstückelt zu haben, ist. gegen Preußen 1772 erhoben, lächerlich.

Was Prof. Waitz betrifft, dessen sittliches Urtheil wir ebenso hoch ver¬
ehren als sein wissenschaftliches, so möchten wir ihm Folgendes zu bedenken
geben.

Wenn er die englischen Zeitungen liest und was sie über Schleswig-
Holstein sagen: ist das nicht etwa dasselbe, was Ouro Klopp :c. gegen die
Einnahme Westpreußens durch Friedrich den Großen sagt? — Ein räuberischer
König will einen schwächern Staat berauben, um den Kieler Hafen. Matrosen
und das fchleswigfche Rindfleisch zur Einpökelung für die Flotte zu benutzen.
Mitleid, ihr weichen Seelen, für das arme verfolgte Dänemark!

Freilich, die Jurisprudenz! Der deutsche Bund hat Ansprüche auf Hol¬
stein — wie auf Limburg; Holstein hat Ansprüche auf Schleswig u. s. w. —
Das ist sehr wahr; aber wir verargen es den Engländern nicht, wenn sie
hinter diese juristischen Deductionen auf die Sache zu kommen suchen. —
Rechtsansprüche waren auch mit dem,Zipser Comitat, auch mit Schlesien ver¬
bunden, und was die linguistische Seite der Sache betrifft, so steht diese noch
nicht im geschriebenen Völkerrecht. — Das vorige Jahrhundert war darin
naiver, und Friedrich, der naivste Politiker der Zeit, in seinen Aeußerungen
sogar mitunter cynisch; aber die Aeußerungen können in letzter Instanz doch
nicht entscheiden. Die Heroen der Geschichte raisonnir.er oft sehr schlecht, aber
sie handeln zweckmäßig. — Wenn Waitz den bekannten Ausspruch von I. Müller
anführt, so muß er sich daran erinnern, daß kein Mensch in Deutschland einen
so schmählichen moralischen Bankerott gemacht hat. als dieser moralische
Phrasendrescher, der die schönsten Sentenzen des Alterthums wol fühlte, aber
sittlich zu schwach war, um sie anders als zufällig, d. h. unter dem Einfluß
der ihm nächstliegenden starken Strömung — auf die Wirklichkeit anzuwenden.

Daß Maria Theresia über die Zumuthung. Polen zu theilen, in sittliche
Entrüstung gerieth. war löblich, und sie hat sich schön darüber ausgedrückt.
Aber vorher hat sie das Zipser Comitat besetzt, und nachher hat sie nicht
schlecht zugegriffen. — Nicht alle historische Wahrheit steht ans dem Papier.
Sie selbst freilich kam sich in dem Augenblick, wo sie das schrieb, wol sehr
tugendhaft vor.

Wir sind entschieden für die Anwendung der Sittlichkeit auf die Politik;
es gibt keine Gesetze, die nicht absolut gelten. Aber die sittlichen Gesetze,
auf große Verhältnisse anwendbar, liegen nicht so auf der Hand, wie die im
kleinen Verkehr. Es ist wie in der Physik: dasselbe Gesetz, nach dem wir Vom-


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[0135] können. — Schlimm genug, daß nur die Combination mit -Rußland offen stand. Man mag gegen die Theilung Polens vom Standpunkt des Völkerrechts und der absoluten Moral einwenden, was man will: der Vorwurf, eine Nation zerstückelt zu haben, ist. gegen Preußen 1772 erhoben, lächerlich. Was Prof. Waitz betrifft, dessen sittliches Urtheil wir ebenso hoch ver¬ ehren als sein wissenschaftliches, so möchten wir ihm Folgendes zu bedenken geben. Wenn er die englischen Zeitungen liest und was sie über Schleswig- Holstein sagen: ist das nicht etwa dasselbe, was Ouro Klopp :c. gegen die Einnahme Westpreußens durch Friedrich den Großen sagt? — Ein räuberischer König will einen schwächern Staat berauben, um den Kieler Hafen. Matrosen und das fchleswigfche Rindfleisch zur Einpökelung für die Flotte zu benutzen. Mitleid, ihr weichen Seelen, für das arme verfolgte Dänemark! Freilich, die Jurisprudenz! Der deutsche Bund hat Ansprüche auf Hol¬ stein — wie auf Limburg; Holstein hat Ansprüche auf Schleswig u. s. w. — Das ist sehr wahr; aber wir verargen es den Engländern nicht, wenn sie hinter diese juristischen Deductionen auf die Sache zu kommen suchen. — Rechtsansprüche waren auch mit dem,Zipser Comitat, auch mit Schlesien ver¬ bunden, und was die linguistische Seite der Sache betrifft, so steht diese noch nicht im geschriebenen Völkerrecht. — Das vorige Jahrhundert war darin naiver, und Friedrich, der naivste Politiker der Zeit, in seinen Aeußerungen sogar mitunter cynisch; aber die Aeußerungen können in letzter Instanz doch nicht entscheiden. Die Heroen der Geschichte raisonnir.er oft sehr schlecht, aber sie handeln zweckmäßig. — Wenn Waitz den bekannten Ausspruch von I. Müller anführt, so muß er sich daran erinnern, daß kein Mensch in Deutschland einen so schmählichen moralischen Bankerott gemacht hat. als dieser moralische Phrasendrescher, der die schönsten Sentenzen des Alterthums wol fühlte, aber sittlich zu schwach war, um sie anders als zufällig, d. h. unter dem Einfluß der ihm nächstliegenden starken Strömung — auf die Wirklichkeit anzuwenden. Daß Maria Theresia über die Zumuthung. Polen zu theilen, in sittliche Entrüstung gerieth. war löblich, und sie hat sich schön darüber ausgedrückt. Aber vorher hat sie das Zipser Comitat besetzt, und nachher hat sie nicht schlecht zugegriffen. — Nicht alle historische Wahrheit steht ans dem Papier. Sie selbst freilich kam sich in dem Augenblick, wo sie das schrieb, wol sehr tugendhaft vor. Wir sind entschieden für die Anwendung der Sittlichkeit auf die Politik; es gibt keine Gesetze, die nicht absolut gelten. Aber die sittlichen Gesetze, auf große Verhältnisse anwendbar, liegen nicht so auf der Hand, wie die im kleinen Verkehr. Es ist wie in der Physik: dasselbe Gesetz, nach dem wir Vom-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/135>, abgerufen am 27.09.2024.