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Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band.

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denn man weiß, daß sich Serbien im Mittelalter aus einer Gruppe von Zu-
panien (kleinen Grafschaften) zu einem Königreich und dann zu einem Kaiser-
thum unter Czaren wie Nemngua und Stephan Duschan entwickelte, um
später wieder Königreich zu werden und im 15. Jahrhundert den türkischen
Waffen zu erliegen. Lassen wir die Schattirungen der Mundarten unberück¬
sichtigt, so zerfallen die Serben der Türkei gegenwärtig in eigentliche Serben,
die unter Karageorg ihre Selbständigkeit wiedererlangt haben und etwa 885.000
Seelen zählen, Bosniaken in Bosnien und Türkisch-Kroatien, Raizen in der
Gegend von Nowipazar. Herzegowina und Montenegriner. Ihre Gesammt-
.zahl in den Ländern der Pforte beträgt gegen 1,660,000. Was man in
Dalmatien Morlaken nennt, ist als zu den Serben gehörig hier, soweit es zu
den Bevölkerungselementen des Pfortenreichs gehört, eingerechnet. In Alba¬
nien wohnen Serben in dichteren Massen bis in die Nähe des Flusses Drin,
weiter südlich trifft man nur noch einzelne Serbendörser mitten unter Alba-
nesen und Bulgaren. Aus Macedonien sind die Serben bis auf die. beiden
von serbischen Königen gegründeten Athosklöster verschwunden. Die Walachei
besitzt mehre Niederlassungen dieses Stammes, die indeß großentheils erst
von Milosch Obrenowitsch angelegt wurden.

Bosnien, welches ethnographisch ganz zu Serbien gehört, steht unter
eigenthümlichen socialen Bedingungen. Im eigentlichen Serbien wurde die
Lehnsherrschaft, die sich hier erst spat entwickelt, in das nationale Unglück mit
hineingezogen und sank theils ins Grab, theils wie das übrige Volk in den
Rajah-Stand. In Bosnien dagegen trat bekanntlich der Adel zum Islam
über, um sich die Lehnsrechte zu erhalten, und diese noch jetzt bestehende Aristo¬
kratie ist das conservativste und reactionärste Element in der ganzen Türkei.
Mohammedanisch, aber keineswegs türkisch, vielmehr nach Gewohnheit und
Sprache rein serbisch, haben diese Beys nie aufgehört, gegen die Reformen
der beiden letzten Sultane zu protestiren und häusig mußte die Regierung Kriege
mit ihnen führen. Andrerseits ergreifen die Rajah, durch Grundzins und
Erpressungen von diesen ihren mohammedanischen Landsleuten erdrückt, häufig
die Waffen im Namen ihres Glaubens und des Haiti Humaynm, und der
sociale Kampf entvölkert ohne Unterlaß Bosnien und noch mehr die Herzego¬
wina, wo die Christen zahlreicher sind und durch die Nachbarschaft von Montenegro
ermuthigt werden.

Dieses Land, slavisch Czrnagora, türkisch Karadagh, albanesisch Malisi
genannt, ist ein letzter Rest des altserbischen Kaiserreichs und hat mit gerin¬
gen Unterbrechungen seit 1504 unter seinen Fürstbischöfen seine Unabhängig¬
keit bewahrt, wobei ihm eine Zeitlang die Venetianer als Schutzherren zur
Seite standen. Die Bevölkerung hat sich in dieser Periode du>es serbische
Flüchtlinge aus der Herzegowina außerordentlich vermehrt. Im Jahre 1606


denn man weiß, daß sich Serbien im Mittelalter aus einer Gruppe von Zu-
panien (kleinen Grafschaften) zu einem Königreich und dann zu einem Kaiser-
thum unter Czaren wie Nemngua und Stephan Duschan entwickelte, um
später wieder Königreich zu werden und im 15. Jahrhundert den türkischen
Waffen zu erliegen. Lassen wir die Schattirungen der Mundarten unberück¬
sichtigt, so zerfallen die Serben der Türkei gegenwärtig in eigentliche Serben,
die unter Karageorg ihre Selbständigkeit wiedererlangt haben und etwa 885.000
Seelen zählen, Bosniaken in Bosnien und Türkisch-Kroatien, Raizen in der
Gegend von Nowipazar. Herzegowina und Montenegriner. Ihre Gesammt-
.zahl in den Ländern der Pforte beträgt gegen 1,660,000. Was man in
Dalmatien Morlaken nennt, ist als zu den Serben gehörig hier, soweit es zu
den Bevölkerungselementen des Pfortenreichs gehört, eingerechnet. In Alba¬
nien wohnen Serben in dichteren Massen bis in die Nähe des Flusses Drin,
weiter südlich trifft man nur noch einzelne Serbendörser mitten unter Alba-
nesen und Bulgaren. Aus Macedonien sind die Serben bis auf die. beiden
von serbischen Königen gegründeten Athosklöster verschwunden. Die Walachei
besitzt mehre Niederlassungen dieses Stammes, die indeß großentheils erst
von Milosch Obrenowitsch angelegt wurden.

Bosnien, welches ethnographisch ganz zu Serbien gehört, steht unter
eigenthümlichen socialen Bedingungen. Im eigentlichen Serbien wurde die
Lehnsherrschaft, die sich hier erst spat entwickelt, in das nationale Unglück mit
hineingezogen und sank theils ins Grab, theils wie das übrige Volk in den
Rajah-Stand. In Bosnien dagegen trat bekanntlich der Adel zum Islam
über, um sich die Lehnsrechte zu erhalten, und diese noch jetzt bestehende Aristo¬
kratie ist das conservativste und reactionärste Element in der ganzen Türkei.
Mohammedanisch, aber keineswegs türkisch, vielmehr nach Gewohnheit und
Sprache rein serbisch, haben diese Beys nie aufgehört, gegen die Reformen
der beiden letzten Sultane zu protestiren und häusig mußte die Regierung Kriege
mit ihnen führen. Andrerseits ergreifen die Rajah, durch Grundzins und
Erpressungen von diesen ihren mohammedanischen Landsleuten erdrückt, häufig
die Waffen im Namen ihres Glaubens und des Haiti Humaynm, und der
sociale Kampf entvölkert ohne Unterlaß Bosnien und noch mehr die Herzego¬
wina, wo die Christen zahlreicher sind und durch die Nachbarschaft von Montenegro
ermuthigt werden.

Dieses Land, slavisch Czrnagora, türkisch Karadagh, albanesisch Malisi
genannt, ist ein letzter Rest des altserbischen Kaiserreichs und hat mit gerin¬
gen Unterbrechungen seit 1504 unter seinen Fürstbischöfen seine Unabhängig¬
keit bewahrt, wobei ihm eine Zeitlang die Venetianer als Schutzherren zur
Seite standen. Die Bevölkerung hat sich in dieser Periode du>es serbische
Flüchtlinge aus der Herzegowina außerordentlich vermehrt. Im Jahre 1606


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[0128] denn man weiß, daß sich Serbien im Mittelalter aus einer Gruppe von Zu- panien (kleinen Grafschaften) zu einem Königreich und dann zu einem Kaiser- thum unter Czaren wie Nemngua und Stephan Duschan entwickelte, um später wieder Königreich zu werden und im 15. Jahrhundert den türkischen Waffen zu erliegen. Lassen wir die Schattirungen der Mundarten unberück¬ sichtigt, so zerfallen die Serben der Türkei gegenwärtig in eigentliche Serben, die unter Karageorg ihre Selbständigkeit wiedererlangt haben und etwa 885.000 Seelen zählen, Bosniaken in Bosnien und Türkisch-Kroatien, Raizen in der Gegend von Nowipazar. Herzegowina und Montenegriner. Ihre Gesammt- .zahl in den Ländern der Pforte beträgt gegen 1,660,000. Was man in Dalmatien Morlaken nennt, ist als zu den Serben gehörig hier, soweit es zu den Bevölkerungselementen des Pfortenreichs gehört, eingerechnet. In Alba¬ nien wohnen Serben in dichteren Massen bis in die Nähe des Flusses Drin, weiter südlich trifft man nur noch einzelne Serbendörser mitten unter Alba- nesen und Bulgaren. Aus Macedonien sind die Serben bis auf die. beiden von serbischen Königen gegründeten Athosklöster verschwunden. Die Walachei besitzt mehre Niederlassungen dieses Stammes, die indeß großentheils erst von Milosch Obrenowitsch angelegt wurden. Bosnien, welches ethnographisch ganz zu Serbien gehört, steht unter eigenthümlichen socialen Bedingungen. Im eigentlichen Serbien wurde die Lehnsherrschaft, die sich hier erst spat entwickelt, in das nationale Unglück mit hineingezogen und sank theils ins Grab, theils wie das übrige Volk in den Rajah-Stand. In Bosnien dagegen trat bekanntlich der Adel zum Islam über, um sich die Lehnsrechte zu erhalten, und diese noch jetzt bestehende Aristo¬ kratie ist das conservativste und reactionärste Element in der ganzen Türkei. Mohammedanisch, aber keineswegs türkisch, vielmehr nach Gewohnheit und Sprache rein serbisch, haben diese Beys nie aufgehört, gegen die Reformen der beiden letzten Sultane zu protestiren und häusig mußte die Regierung Kriege mit ihnen führen. Andrerseits ergreifen die Rajah, durch Grundzins und Erpressungen von diesen ihren mohammedanischen Landsleuten erdrückt, häufig die Waffen im Namen ihres Glaubens und des Haiti Humaynm, und der sociale Kampf entvölkert ohne Unterlaß Bosnien und noch mehr die Herzego¬ wina, wo die Christen zahlreicher sind und durch die Nachbarschaft von Montenegro ermuthigt werden. Dieses Land, slavisch Czrnagora, türkisch Karadagh, albanesisch Malisi genannt, ist ein letzter Rest des altserbischen Kaiserreichs und hat mit gerin¬ gen Unterbrechungen seit 1504 unter seinen Fürstbischöfen seine Unabhängig¬ keit bewahrt, wobei ihm eine Zeitlang die Venetianer als Schutzherren zur Seite standen. Die Bevölkerung hat sich in dieser Periode du>es serbische Flüchtlinge aus der Herzegowina außerordentlich vermehrt. Im Jahre 1606

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_111431/128>, abgerufen am 02.10.2024.