Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.fachen, theils um die Motive festzustellen. Wenn wir aber Friedrichs Ge¬ Diesen Widerspruch aufzulösen, ist die oberflächliche Erklärung leicht bei Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war keine Nation in Europa fachen, theils um die Motive festzustellen. Wenn wir aber Friedrichs Ge¬ Diesen Widerspruch aufzulösen, ist die oberflächliche Erklärung leicht bei Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war keine Nation in Europa <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0079" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110973"/> <p xml:id="ID_206" prev="#ID_205"> fachen, theils um die Motive festzustellen. Wenn wir aber Friedrichs Ge¬<lb/> dichte, ja auch einen großen Theil seiner prosaischen Aufsätze und Briefe auf¬<lb/> schlagen, so gewahren wir zu unserm größten Erstaunen, daß hier eine ganz<lb/> andere Atmosphäre von Empfindungen und Gedanken herrscht, als die wir<lb/> aus seinem wirklicken Leben herauslesen. Ein Beispiel genügt. Er schrieb<lb/> die Widerlegung des Macchiavell, als der Ueberfall der östreichischen Monarchie<lb/> ihm schon im Sinne lag; er gab die zweite Auflage heraus, als er ihn ins<lb/> Werk setzte. Nun waren die Motive dieses Ueberfalls gewiß so macchiavelli-<lb/> stischer Art, als irgend ein historischer Entschluß. Und überhaupt finden sich<lb/> die zahlreichsten Widersprüche zwischen den Motiven Friedrichs, die er ganz<lb/> offen, nicht blos in seinen Briefen, sondern auch in seinen historischen Werken<lb/> ausspricht, und den Lehren des Antnnacchiavell.</p><lb/> <p xml:id="ID_207"> Diesen Widerspruch aufzulösen, ist die oberflächliche Erklärung leicht bei<lb/> der Hand: der Schriftsteller suchte die Welt über das zu täuschen, was der<lb/> Politiker vorhatte. Der einfache Vergleich der Daten ergibt das Unsinnige<lb/> dieser Voraussetzung. Friedrich schrieb in gutem Glauben seinen Antnnacchia¬<lb/> vell, er legte in ebenso gutem Glauben in den Briefen und Memoiren seine<lb/> macchiavellistischen Grundsätze nieder, er empfand den Widerspruch gar nicht,<lb/> weil in der Bildung seines Geistes und Herzens ein Dualismus herrschte, der<lb/> zu den größten Räthseln unserer Culturgeschichte gehört. Macaulay hat an<lb/> diesem Räthsel geistvoll boshaft, Herr Klopp hat geistlos daran herum ge¬<lb/> lastet; vielleicht wird Carlyle in der Fortsetzung seines Werks eine tiefere Auf¬<lb/> lösung finden. Hier nur einige Worte darüber. —</p><lb/> <p xml:id="ID_208" next="#ID_209"> Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war keine Nation in Europa<lb/> geistig so wenig entwickelt als die deutsche; oder vielmehr — denn der Aus¬<lb/> druck ist nicht ganz genau — die deutsche Nation hatte durch eine lange schwere<lb/> Krankheit den Gebrauch ihrer Zunge und dadurch bis zu einem gewissen Grade<lb/> die Bestimmtheit ihres Denkens und Empfindens verloren. Ihre mittelalter,<lb/> liebe Poesie und Sprache hatte sie ganz vergessen, das Volkslied war ver¬<lb/> stummt, der Meistergesang wucherte nur noch kümmerlich in armseligen Gelegen¬<lb/> heitsgedichten, die Sprache Luthers war durch scholastische Verbildung der<lb/> Universitäten aus den Fugen gerissen, der Versuch einer gelehrten Poesie, der<lb/> mit Opitz begann und ohnehin mit dem Leben des Volks nichts zu thun hatte,<lb/> war seit Lohensteins Tod völlig ausgegeben. Die Gelehrten correspondirten<lb/> untereinander in einem möglichst schlechten Latein, in dem sie es doch eigent¬<lb/> lich nie bis zum Denken brachten, und darin wurde auch die Jugend erzogen.<lb/> Wenn Leibnitz. vielleicht der erste Denker des Jahrhunderts und auch als<lb/> Schriftsteller in erster Linie, sich deutsch auszudrücken versucht, so ist es rud.<lb/> rend zu verfolgen, welche Mühe ihm das macht und wie wenig es ihm gelingt,<lb/> jene Klarheit und Fülle zu gewinnen, die ihm im Französischen nie fehlt.</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0079]
fachen, theils um die Motive festzustellen. Wenn wir aber Friedrichs Ge¬
dichte, ja auch einen großen Theil seiner prosaischen Aufsätze und Briefe auf¬
schlagen, so gewahren wir zu unserm größten Erstaunen, daß hier eine ganz
andere Atmosphäre von Empfindungen und Gedanken herrscht, als die wir
aus seinem wirklicken Leben herauslesen. Ein Beispiel genügt. Er schrieb
die Widerlegung des Macchiavell, als der Ueberfall der östreichischen Monarchie
ihm schon im Sinne lag; er gab die zweite Auflage heraus, als er ihn ins
Werk setzte. Nun waren die Motive dieses Ueberfalls gewiß so macchiavelli-
stischer Art, als irgend ein historischer Entschluß. Und überhaupt finden sich
die zahlreichsten Widersprüche zwischen den Motiven Friedrichs, die er ganz
offen, nicht blos in seinen Briefen, sondern auch in seinen historischen Werken
ausspricht, und den Lehren des Antnnacchiavell.
Diesen Widerspruch aufzulösen, ist die oberflächliche Erklärung leicht bei
der Hand: der Schriftsteller suchte die Welt über das zu täuschen, was der
Politiker vorhatte. Der einfache Vergleich der Daten ergibt das Unsinnige
dieser Voraussetzung. Friedrich schrieb in gutem Glauben seinen Antnnacchia¬
vell, er legte in ebenso gutem Glauben in den Briefen und Memoiren seine
macchiavellistischen Grundsätze nieder, er empfand den Widerspruch gar nicht,
weil in der Bildung seines Geistes und Herzens ein Dualismus herrschte, der
zu den größten Räthseln unserer Culturgeschichte gehört. Macaulay hat an
diesem Räthsel geistvoll boshaft, Herr Klopp hat geistlos daran herum ge¬
lastet; vielleicht wird Carlyle in der Fortsetzung seines Werks eine tiefere Auf¬
lösung finden. Hier nur einige Worte darüber. —
Zu Anfang des achtzehnten Jahrhunderts war keine Nation in Europa
geistig so wenig entwickelt als die deutsche; oder vielmehr — denn der Aus¬
druck ist nicht ganz genau — die deutsche Nation hatte durch eine lange schwere
Krankheit den Gebrauch ihrer Zunge und dadurch bis zu einem gewissen Grade
die Bestimmtheit ihres Denkens und Empfindens verloren. Ihre mittelalter,
liebe Poesie und Sprache hatte sie ganz vergessen, das Volkslied war ver¬
stummt, der Meistergesang wucherte nur noch kümmerlich in armseligen Gelegen¬
heitsgedichten, die Sprache Luthers war durch scholastische Verbildung der
Universitäten aus den Fugen gerissen, der Versuch einer gelehrten Poesie, der
mit Opitz begann und ohnehin mit dem Leben des Volks nichts zu thun hatte,
war seit Lohensteins Tod völlig ausgegeben. Die Gelehrten correspondirten
untereinander in einem möglichst schlechten Latein, in dem sie es doch eigent¬
lich nie bis zum Denken brachten, und darin wurde auch die Jugend erzogen.
Wenn Leibnitz. vielleicht der erste Denker des Jahrhunderts und auch als
Schriftsteller in erster Linie, sich deutsch auszudrücken versucht, so ist es rud.
rend zu verfolgen, welche Mühe ihm das macht und wie wenig es ihm gelingt,
jene Klarheit und Fülle zu gewinnen, die ihm im Französischen nie fehlt.
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |