Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

peschen in der syrischen Angelegenheit, und die höchst erstaunlichen Vorfälle
in Warschau werden die Nothwendigkeit einer französischen Allianz der russi¬
schen Regierung noch deutlicher gemacht haben.

Aber Oestreich soll ja erklärt haben, es werde, sobald die Franzosen aus
Rom gehen, seine Truppen an deren Stelle schicken? Wer daran glaubt,
der mag auch annehmen, daß die Elberfelder Waisenkinder vom heiligen Geist
angeregt worden sind!

Das großartige, wunderbare Schauspiel der Umgestaltung Oestreichs' in
einen Verfassungsstaat bedarf einer eingehenden Beleuchtung. Wir, werden sie
im nächsten Heft geben. Hier nur soviel: nachdem Oestreich die Umgestaltung
einmal begonnen, kann es sich nicht eher frei bewegen, als bis es sie vollendet
hat. Wollte Oestreich in diesen Uebergangswehen einen europäischen Krieg
unternehmen, so ginge es seiner völligen Zertrümmerung entgegen. Und all-
mälig fängt man auch in Wien an. das zu begreifen, und würde noch viel
deutlicher sehen, wie die Sachen beschaffen sind, wenn man in Berlin die
Augen offen hätte. '

Dies ist der Punkt, auf den es uns eigentlich ankommt. Indem wir die Mög¬
lichkeit, daß Frankreich die Tricolore aufsteckt, geltend machen, fällt uns nicht ein,
daraus den Wunsch einer Allianz mit Frankreich herzuleiten. Die Principien von
1789 können in Frankreich stark genug sein, um ein unabhängiges Italien
neben sich zu dulden; sie werden aber nie so sehr das Interesse zurückdrängen,
um ein geeinigtes Deutschland wünschen zu lassen. Für unsere innere Wie¬
dergeburt können wir in Frankreich nie einen Freund, sondern müssen wir
stets einen gefährlichen Gegner erwarten, einen um so gefährlicheren Gegner,
je straffer es seine eigenen Kräfte concentrirt.

Aber warum siel das alte Europa vor dem revolutionären Frankreich?

Weil es nicht den Muth und nicht die Kraft hatte, dem lebendigen Princip
ein lebendiges Princip entgegen zu stellen, weil es sich schwächlich an das ab¬
gelebte System des canonisirten Egoismus anklammerte; jenes gemeinen
Egoismus, der den Namen Gottes mißbraucht und. wenn es zur Ent¬
scheidung kommt, in den kleinlichsten Interessen befangen eines großen Ent¬
schlusses unfähig ist. Deutschland oder Preußen kann nur dann dem in¬
neren Wachsthum Frankreichs ruhig entgegensehen, wenn es selbst die abge¬
lebten Formen abwirft und sich aus eigenen Kräften verjüngt. Der erste
Schritt, den Preußen thun muß. um nach außen hin zu wirken, um -- mora¬
lische Eroberungen zu machen, ist die innere Wiedergeburt. Die Verbesserung
der innern Zustände ist nicht blos eine Frage der Freiheit und der Ordnung,
sondern geradezu eine Frage der Macht. So lange Preußen in den 'Tradi¬
tionen von Hinkeldey, Westphalen und Manteuffel unentschlossen fortschleicht,
bleibt es auch nach außen ein machtloser Staat. Die Wärme, mit der sich


55*

peschen in der syrischen Angelegenheit, und die höchst erstaunlichen Vorfälle
in Warschau werden die Nothwendigkeit einer französischen Allianz der russi¬
schen Regierung noch deutlicher gemacht haben.

Aber Oestreich soll ja erklärt haben, es werde, sobald die Franzosen aus
Rom gehen, seine Truppen an deren Stelle schicken? Wer daran glaubt,
der mag auch annehmen, daß die Elberfelder Waisenkinder vom heiligen Geist
angeregt worden sind!

Das großartige, wunderbare Schauspiel der Umgestaltung Oestreichs' in
einen Verfassungsstaat bedarf einer eingehenden Beleuchtung. Wir, werden sie
im nächsten Heft geben. Hier nur soviel: nachdem Oestreich die Umgestaltung
einmal begonnen, kann es sich nicht eher frei bewegen, als bis es sie vollendet
hat. Wollte Oestreich in diesen Uebergangswehen einen europäischen Krieg
unternehmen, so ginge es seiner völligen Zertrümmerung entgegen. Und all-
mälig fängt man auch in Wien an. das zu begreifen, und würde noch viel
deutlicher sehen, wie die Sachen beschaffen sind, wenn man in Berlin die
Augen offen hätte. '

Dies ist der Punkt, auf den es uns eigentlich ankommt. Indem wir die Mög¬
lichkeit, daß Frankreich die Tricolore aufsteckt, geltend machen, fällt uns nicht ein,
daraus den Wunsch einer Allianz mit Frankreich herzuleiten. Die Principien von
1789 können in Frankreich stark genug sein, um ein unabhängiges Italien
neben sich zu dulden; sie werden aber nie so sehr das Interesse zurückdrängen,
um ein geeinigtes Deutschland wünschen zu lassen. Für unsere innere Wie¬
dergeburt können wir in Frankreich nie einen Freund, sondern müssen wir
stets einen gefährlichen Gegner erwarten, einen um so gefährlicheren Gegner,
je straffer es seine eigenen Kräfte concentrirt.

Aber warum siel das alte Europa vor dem revolutionären Frankreich?

Weil es nicht den Muth und nicht die Kraft hatte, dem lebendigen Princip
ein lebendiges Princip entgegen zu stellen, weil es sich schwächlich an das ab¬
gelebte System des canonisirten Egoismus anklammerte; jenes gemeinen
Egoismus, der den Namen Gottes mißbraucht und. wenn es zur Ent¬
scheidung kommt, in den kleinlichsten Interessen befangen eines großen Ent¬
schlusses unfähig ist. Deutschland oder Preußen kann nur dann dem in¬
neren Wachsthum Frankreichs ruhig entgegensehen, wenn es selbst die abge¬
lebten Formen abwirft und sich aus eigenen Kräften verjüngt. Der erste
Schritt, den Preußen thun muß. um nach außen hin zu wirken, um — mora¬
lische Eroberungen zu machen, ist die innere Wiedergeburt. Die Verbesserung
der innern Zustände ist nicht blos eine Frage der Freiheit und der Ordnung,
sondern geradezu eine Frage der Macht. So lange Preußen in den 'Tradi¬
tionen von Hinkeldey, Westphalen und Manteuffel unentschlossen fortschleicht,
bleibt es auch nach außen ein machtloser Staat. Die Wärme, mit der sich


55*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0445" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/111339"/>
          <p xml:id="ID_1479" prev="#ID_1478"> peschen in der syrischen Angelegenheit, und die höchst erstaunlichen Vorfälle<lb/>
in Warschau werden die Nothwendigkeit einer französischen Allianz der russi¬<lb/>
schen Regierung noch deutlicher gemacht haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1480"> Aber Oestreich soll ja erklärt haben, es werde, sobald die Franzosen aus<lb/>
Rom gehen, seine Truppen an deren Stelle schicken? Wer daran glaubt,<lb/>
der mag auch annehmen, daß die Elberfelder Waisenkinder vom heiligen Geist<lb/>
angeregt worden sind!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1481"> Das großartige, wunderbare Schauspiel der Umgestaltung Oestreichs' in<lb/>
einen Verfassungsstaat bedarf einer eingehenden Beleuchtung. Wir, werden sie<lb/>
im nächsten Heft geben. Hier nur soviel: nachdem Oestreich die Umgestaltung<lb/>
einmal begonnen, kann es sich nicht eher frei bewegen, als bis es sie vollendet<lb/>
hat. Wollte Oestreich in diesen Uebergangswehen einen europäischen Krieg<lb/>
unternehmen, so ginge es seiner völligen Zertrümmerung entgegen. Und all-<lb/>
mälig fängt man auch in Wien an. das zu begreifen, und würde noch viel<lb/>
deutlicher sehen, wie die Sachen beschaffen sind, wenn man in Berlin die<lb/>
Augen offen hätte. '</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1482"> Dies ist der Punkt, auf den es uns eigentlich ankommt. Indem wir die Mög¬<lb/>
lichkeit, daß Frankreich die Tricolore aufsteckt, geltend machen, fällt uns nicht ein,<lb/>
daraus den Wunsch einer Allianz mit Frankreich herzuleiten. Die Principien von<lb/>
1789 können in Frankreich stark genug sein, um ein unabhängiges Italien<lb/>
neben sich zu dulden; sie werden aber nie so sehr das Interesse zurückdrängen,<lb/>
um ein geeinigtes Deutschland wünschen zu lassen. Für unsere innere Wie¬<lb/>
dergeburt können wir in Frankreich nie einen Freund, sondern müssen wir<lb/>
stets einen gefährlichen Gegner erwarten, einen um so gefährlicheren Gegner,<lb/>
je straffer es seine eigenen Kräfte concentrirt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1483"> Aber warum siel das alte Europa vor dem revolutionären Frankreich?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1484" next="#ID_1485"> Weil es nicht den Muth und nicht die Kraft hatte, dem lebendigen Princip<lb/>
ein lebendiges Princip entgegen zu stellen, weil es sich schwächlich an das ab¬<lb/>
gelebte System des canonisirten Egoismus anklammerte; jenes gemeinen<lb/>
Egoismus, der den Namen Gottes mißbraucht und. wenn es zur Ent¬<lb/>
scheidung kommt, in den kleinlichsten Interessen befangen eines großen Ent¬<lb/>
schlusses unfähig ist. Deutschland oder Preußen kann nur dann dem in¬<lb/>
neren Wachsthum Frankreichs ruhig entgegensehen, wenn es selbst die abge¬<lb/>
lebten Formen abwirft und sich aus eigenen Kräften verjüngt. Der erste<lb/>
Schritt, den Preußen thun muß. um nach außen hin zu wirken, um &#x2014; mora¬<lb/>
lische Eroberungen zu machen, ist die innere Wiedergeburt. Die Verbesserung<lb/>
der innern Zustände ist nicht blos eine Frage der Freiheit und der Ordnung,<lb/>
sondern geradezu eine Frage der Macht. So lange Preußen in den 'Tradi¬<lb/>
tionen von Hinkeldey, Westphalen und Manteuffel unentschlossen fortschleicht,<lb/>
bleibt es auch nach außen ein machtloser Staat.  Die Wärme, mit der sich</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> 55*</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0445] peschen in der syrischen Angelegenheit, und die höchst erstaunlichen Vorfälle in Warschau werden die Nothwendigkeit einer französischen Allianz der russi¬ schen Regierung noch deutlicher gemacht haben. Aber Oestreich soll ja erklärt haben, es werde, sobald die Franzosen aus Rom gehen, seine Truppen an deren Stelle schicken? Wer daran glaubt, der mag auch annehmen, daß die Elberfelder Waisenkinder vom heiligen Geist angeregt worden sind! Das großartige, wunderbare Schauspiel der Umgestaltung Oestreichs' in einen Verfassungsstaat bedarf einer eingehenden Beleuchtung. Wir, werden sie im nächsten Heft geben. Hier nur soviel: nachdem Oestreich die Umgestaltung einmal begonnen, kann es sich nicht eher frei bewegen, als bis es sie vollendet hat. Wollte Oestreich in diesen Uebergangswehen einen europäischen Krieg unternehmen, so ginge es seiner völligen Zertrümmerung entgegen. Und all- mälig fängt man auch in Wien an. das zu begreifen, und würde noch viel deutlicher sehen, wie die Sachen beschaffen sind, wenn man in Berlin die Augen offen hätte. ' Dies ist der Punkt, auf den es uns eigentlich ankommt. Indem wir die Mög¬ lichkeit, daß Frankreich die Tricolore aufsteckt, geltend machen, fällt uns nicht ein, daraus den Wunsch einer Allianz mit Frankreich herzuleiten. Die Principien von 1789 können in Frankreich stark genug sein, um ein unabhängiges Italien neben sich zu dulden; sie werden aber nie so sehr das Interesse zurückdrängen, um ein geeinigtes Deutschland wünschen zu lassen. Für unsere innere Wie¬ dergeburt können wir in Frankreich nie einen Freund, sondern müssen wir stets einen gefährlichen Gegner erwarten, einen um so gefährlicheren Gegner, je straffer es seine eigenen Kräfte concentrirt. Aber warum siel das alte Europa vor dem revolutionären Frankreich? Weil es nicht den Muth und nicht die Kraft hatte, dem lebendigen Princip ein lebendiges Princip entgegen zu stellen, weil es sich schwächlich an das ab¬ gelebte System des canonisirten Egoismus anklammerte; jenes gemeinen Egoismus, der den Namen Gottes mißbraucht und. wenn es zur Ent¬ scheidung kommt, in den kleinlichsten Interessen befangen eines großen Ent¬ schlusses unfähig ist. Deutschland oder Preußen kann nur dann dem in¬ neren Wachsthum Frankreichs ruhig entgegensehen, wenn es selbst die abge¬ lebten Formen abwirft und sich aus eigenen Kräften verjüngt. Der erste Schritt, den Preußen thun muß. um nach außen hin zu wirken, um — mora¬ lische Eroberungen zu machen, ist die innere Wiedergeburt. Die Verbesserung der innern Zustände ist nicht blos eine Frage der Freiheit und der Ordnung, sondern geradezu eine Frage der Macht. So lange Preußen in den 'Tradi¬ tionen von Hinkeldey, Westphalen und Manteuffel unentschlossen fortschleicht, bleibt es auch nach außen ein machtloser Staat. Die Wärme, mit der sich 55*

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/445
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 20, 1861, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341793_110893/445>, abgerufen am 26.06.2024.