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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Position ist künstlerisch durchdacht, die Darstellung fließend, nur wenige Stellen
enthalten Malerei um der Malerei willen. Die Stimmung des Ganzen ist
wahrhaft poetisch, auch einzelne Nebenfiguren -- z. B. die wilde Nottmännin
und die Näherin Leegart, die sich einbildet, hexen zu können, und diese Fähig¬
keit so bescheiden als möglich zu tragen sucht -- sind vortrefflich ausgeführt.
Einzelne Anklänge an Adam Bete und die letzte Novelle von G. Sand sind
vielleicht ganz zufällig. Ein Uebelstand ist, daß die Entscheidung -- die Um-
stimmung des alten Rottmann -- in der vorhergehenden Charakteristik nicht
genügend vertreten ist. -- Wie dem auch sei, die Novelle ist fein erdacht und
schön ausgeführt -- wir möchten ihr z. B. vor "Barfüßele" entschieden den
Vorzug geben. -- Und doch würde es uns schmerzlich sein, wenn sie eine Re¬
signation des Dichters ausdrücken sollte. -- Die allgemeine Theilnahme wird
er doch nur dann behaupten können, wenn er, neben dem Bauernleben, auch
die allgemeinen Interessen der Nation zu fassen und wiederzugeben versteht.
Bei einem frühern Versuch der Art ist er gescheitert, es ist aber vielen Dichtern
begegnet: ein Zusammenraffen zu einem größern Ganzen, selbst aus die Gefahr
eines nochmaligen Mißlingens, würde für seine Entwicklung heilsamer sein,
als das bisherige Verzetteln seiner Kraft an unbedeutende Kalendergeschichten. --

' Alfred Meißner: Neuer Adel. Roman in 3 Bdn. -- Leipzig. Gru-
now. -- Meißner ging von einer ganz andern poetischen Bewegung aus: er
folgte dem Strom der sogenannren politischen Lyrik, die durch zwei Oestreicher,
durch Anastasius Grün und Lenau eröffnet wurde und sich dann über das
übrige Deutschland verbreitete. In der Lyrik waren die Stoffe hauptsächlich
durch Tieck und Uhland festgestellt: Mondschein, Vogelgesang, Waldhorn, Rui¬
nen, Nonnen u. s. w.z da diese Dinge durch die neuen Erfindungen, durch
die politischen Interessen, die Kammern, die Budgets, die Eisenbahnen u. s. w.
gestört wurden, so war die Lyrik im.Allgemeinen dem Liberalismus abgeneigt.
Indessen stellte sich das Bedürfniß nach neuen Stoffen lebhaft heraus, da das
Thema vom Mondschein u. s. w. kaum noch eine neue Variation zuließ. Es
war daher von Anastasius Grün auch poetisch ein sehr glücklicher Griff, daß
er sich bemühte, das Malerische und Interessante der Dampfmaschinen, der
Nationalgarten, des Liberalismus im Allgemeinen hervorzuheben; und dem
Volk dadurch ganz neue Perspectiven eröffnete. Daß es hauptsächlich das
Bedürfniß neuer Stoffe und Stimmungen war, die dieser Lyrik so großen
Anklang verschaffte, zeigt Freiligrath, der mit den Kameelen der Wüste anfing
und dann zu Revolutionsscenen überging: ein entschiedncr Fortschritt, da die
letzteren eine weit größere Bewegung verstatten. -- Grund genug für die re¬
lative Berechtigung der neuen Spielart, wenn man sich auch über die Gren¬
zen derselben nicht mehr täuscht: man richtet seine Abstimmung nicht mehr


Position ist künstlerisch durchdacht, die Darstellung fließend, nur wenige Stellen
enthalten Malerei um der Malerei willen. Die Stimmung des Ganzen ist
wahrhaft poetisch, auch einzelne Nebenfiguren — z. B. die wilde Nottmännin
und die Näherin Leegart, die sich einbildet, hexen zu können, und diese Fähig¬
keit so bescheiden als möglich zu tragen sucht — sind vortrefflich ausgeführt.
Einzelne Anklänge an Adam Bete und die letzte Novelle von G. Sand sind
vielleicht ganz zufällig. Ein Uebelstand ist, daß die Entscheidung — die Um-
stimmung des alten Rottmann — in der vorhergehenden Charakteristik nicht
genügend vertreten ist. — Wie dem auch sei, die Novelle ist fein erdacht und
schön ausgeführt — wir möchten ihr z. B. vor „Barfüßele" entschieden den
Vorzug geben. — Und doch würde es uns schmerzlich sein, wenn sie eine Re¬
signation des Dichters ausdrücken sollte. — Die allgemeine Theilnahme wird
er doch nur dann behaupten können, wenn er, neben dem Bauernleben, auch
die allgemeinen Interessen der Nation zu fassen und wiederzugeben versteht.
Bei einem frühern Versuch der Art ist er gescheitert, es ist aber vielen Dichtern
begegnet: ein Zusammenraffen zu einem größern Ganzen, selbst aus die Gefahr
eines nochmaligen Mißlingens, würde für seine Entwicklung heilsamer sein,
als das bisherige Verzetteln seiner Kraft an unbedeutende Kalendergeschichten. —

' Alfred Meißner: Neuer Adel. Roman in 3 Bdn. — Leipzig. Gru-
now. — Meißner ging von einer ganz andern poetischen Bewegung aus: er
folgte dem Strom der sogenannren politischen Lyrik, die durch zwei Oestreicher,
durch Anastasius Grün und Lenau eröffnet wurde und sich dann über das
übrige Deutschland verbreitete. In der Lyrik waren die Stoffe hauptsächlich
durch Tieck und Uhland festgestellt: Mondschein, Vogelgesang, Waldhorn, Rui¬
nen, Nonnen u. s. w.z da diese Dinge durch die neuen Erfindungen, durch
die politischen Interessen, die Kammern, die Budgets, die Eisenbahnen u. s. w.
gestört wurden, so war die Lyrik im.Allgemeinen dem Liberalismus abgeneigt.
Indessen stellte sich das Bedürfniß nach neuen Stoffen lebhaft heraus, da das
Thema vom Mondschein u. s. w. kaum noch eine neue Variation zuließ. Es
war daher von Anastasius Grün auch poetisch ein sehr glücklicher Griff, daß
er sich bemühte, das Malerische und Interessante der Dampfmaschinen, der
Nationalgarten, des Liberalismus im Allgemeinen hervorzuheben; und dem
Volk dadurch ganz neue Perspectiven eröffnete. Daß es hauptsächlich das
Bedürfniß neuer Stoffe und Stimmungen war, die dieser Lyrik so großen
Anklang verschaffte, zeigt Freiligrath, der mit den Kameelen der Wüste anfing
und dann zu Revolutionsscenen überging: ein entschiedncr Fortschritt, da die
letzteren eine weit größere Bewegung verstatten. — Grund genug für die re¬
lative Berechtigung der neuen Spielart, wenn man sich auch über die Gren¬
zen derselben nicht mehr täuscht: man richtet seine Abstimmung nicht mehr


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/498>, abgerufen am 15.01.2025.