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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Gewehr. Geschäfte hinderten mich den Einzug des Dictators zu sehn. Als
ich gegen ein Uhr nach dem Toledo eilte, befand er sich schon in der Stra-
ncna Reale, den, am Largo ti Palazzo gelegnen geräumigen Palais, wo die
Könige von Neapel ihre Gäste einzuquartieren pflegten. Kaum 1500 Personen
aus einer Stadt von einer halben Million Einwohner hatten sich dort ver¬
sammelt, um ihren Befreier durch Zuruf und Hütcschwiugen zu bewillkommnen,
wenn er, was oft geschah, in seinem rothen Hemde auf den Balcon heraus¬
trat. Dies nieist der Hefe der Bevölkerung angehörige Publikum ver¬
schwand so zu sagen auf dem ungeheuern Raum der Schloßfreiheit. Das
königliche Palais war verschlossen, ohne Wache; nur hinter dem Gitter des
Schloßgartens bemerkte man noch die brillante Uniform der Guardia reale.
In den industriellen Stadttheilen war Alles bei den gewohnten Beschäftigungen.
Bon Enthusiasmus ließ sich hier trotz der seit dem Morgen fortgesetzten Um¬
züge künstlich fanatirsiter Evviva-Unser kaum eine Spur bemerken.

Indessen Enthusiasmus war nöthig, somol des Inlands als auch des
Auslands wegen. Es wurde zu dem Zwecke in der üblichen eindringlichen
Weise die allgemeine Illumination angesagt. -- wer hätte gewagt, sich einem
solchen Befehl zu entziehn? -- Am Nachmittage erfuhr man, daß Garibaldi
ein neues Ministerium mit Liborio Romano an der Spitze gebildet habe; am
Abend sprach man schon davon, daß von diesem Ministerium 65,000 Ducati
gespendet worden seien, um die schlummernden patriotischen Gefühle der Nea¬
politaner zur Extase zu erwecken. Ebenso hatte der verstorbene König seine
lumpige Noyalistengarde zum Angriff auf die liberale Stadt begeistert. Einen
wunderbaren, einen unauslöschlichen Eindruck machte übrigens auch dies in der
ganzen Stadt improvisirte Volksfest, namentlich in der Toledostraße. Zwi¬
schen den himmelhohen, bis oben mit Lampions und Tricoloren geschmückten
Häusern drängte sich Wagen an Wagen langsam und majestätisch durch eine
unzählbare, mit Fahnen, Schärpen und Cocarden bunt ausgeputzte Volks-
masse. Auf den Wagen standen, in der eigenthümlichen Beleuchtung sich rei¬
zend ausnehmend, in Weiß mit tricoloren Schärpen oder in die garibaldische
rothe Blouse gekleidet, Mädchen und Frauen, die Fahnen und Dolche schwan¬
gen und zum Einstimmen in das betäubende Evviva-Geschrei aufforderten.
Neben den Weibern sah man, Fackeln in den Händen, zum Theil in wvhldrap-
pirten Lumpen, zum Theil auch in wirklich gelungenen Costümen. junge Män¬
ner mit allen Abzeichen des revolutionären Italiens, bisweilen auch Geistliche
mit einer Schärpe über der schwarzen Sutane, oft zwölf Personen auf einem
viersitzigen Wagen. Wildaussehende Proletarier waren überall vertheilt,
um den zu Wagen und zu Fuß Vorüberziehenden brennende Fackeln nufzu-
nöthigen -- man brauchte dafür nur ein Almosen zugeben; denn die Regier¬
ung hatte Alles bezahlt. Je später der Abend, um so entsetzlicher wurde die


Gewehr. Geschäfte hinderten mich den Einzug des Dictators zu sehn. Als
ich gegen ein Uhr nach dem Toledo eilte, befand er sich schon in der Stra-
ncna Reale, den, am Largo ti Palazzo gelegnen geräumigen Palais, wo die
Könige von Neapel ihre Gäste einzuquartieren pflegten. Kaum 1500 Personen
aus einer Stadt von einer halben Million Einwohner hatten sich dort ver¬
sammelt, um ihren Befreier durch Zuruf und Hütcschwiugen zu bewillkommnen,
wenn er, was oft geschah, in seinem rothen Hemde auf den Balcon heraus¬
trat. Dies nieist der Hefe der Bevölkerung angehörige Publikum ver¬
schwand so zu sagen auf dem ungeheuern Raum der Schloßfreiheit. Das
königliche Palais war verschlossen, ohne Wache; nur hinter dem Gitter des
Schloßgartens bemerkte man noch die brillante Uniform der Guardia reale.
In den industriellen Stadttheilen war Alles bei den gewohnten Beschäftigungen.
Bon Enthusiasmus ließ sich hier trotz der seit dem Morgen fortgesetzten Um¬
züge künstlich fanatirsiter Evviva-Unser kaum eine Spur bemerken.

Indessen Enthusiasmus war nöthig, somol des Inlands als auch des
Auslands wegen. Es wurde zu dem Zwecke in der üblichen eindringlichen
Weise die allgemeine Illumination angesagt. — wer hätte gewagt, sich einem
solchen Befehl zu entziehn? -- Am Nachmittage erfuhr man, daß Garibaldi
ein neues Ministerium mit Liborio Romano an der Spitze gebildet habe; am
Abend sprach man schon davon, daß von diesem Ministerium 65,000 Ducati
gespendet worden seien, um die schlummernden patriotischen Gefühle der Nea¬
politaner zur Extase zu erwecken. Ebenso hatte der verstorbene König seine
lumpige Noyalistengarde zum Angriff auf die liberale Stadt begeistert. Einen
wunderbaren, einen unauslöschlichen Eindruck machte übrigens auch dies in der
ganzen Stadt improvisirte Volksfest, namentlich in der Toledostraße. Zwi¬
schen den himmelhohen, bis oben mit Lampions und Tricoloren geschmückten
Häusern drängte sich Wagen an Wagen langsam und majestätisch durch eine
unzählbare, mit Fahnen, Schärpen und Cocarden bunt ausgeputzte Volks-
masse. Auf den Wagen standen, in der eigenthümlichen Beleuchtung sich rei¬
zend ausnehmend, in Weiß mit tricoloren Schärpen oder in die garibaldische
rothe Blouse gekleidet, Mädchen und Frauen, die Fahnen und Dolche schwan¬
gen und zum Einstimmen in das betäubende Evviva-Geschrei aufforderten.
Neben den Weibern sah man, Fackeln in den Händen, zum Theil in wvhldrap-
pirten Lumpen, zum Theil auch in wirklich gelungenen Costümen. junge Män¬
ner mit allen Abzeichen des revolutionären Italiens, bisweilen auch Geistliche
mit einer Schärpe über der schwarzen Sutane, oft zwölf Personen auf einem
viersitzigen Wagen. Wildaussehende Proletarier waren überall vertheilt,
um den zu Wagen und zu Fuß Vorüberziehenden brennende Fackeln nufzu-
nöthigen — man brauchte dafür nur ein Almosen zugeben; denn die Regier¬
ung hatte Alles bezahlt. Je später der Abend, um so entsetzlicher wurde die


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[0043] Gewehr. Geschäfte hinderten mich den Einzug des Dictators zu sehn. Als ich gegen ein Uhr nach dem Toledo eilte, befand er sich schon in der Stra- ncna Reale, den, am Largo ti Palazzo gelegnen geräumigen Palais, wo die Könige von Neapel ihre Gäste einzuquartieren pflegten. Kaum 1500 Personen aus einer Stadt von einer halben Million Einwohner hatten sich dort ver¬ sammelt, um ihren Befreier durch Zuruf und Hütcschwiugen zu bewillkommnen, wenn er, was oft geschah, in seinem rothen Hemde auf den Balcon heraus¬ trat. Dies nieist der Hefe der Bevölkerung angehörige Publikum ver¬ schwand so zu sagen auf dem ungeheuern Raum der Schloßfreiheit. Das königliche Palais war verschlossen, ohne Wache; nur hinter dem Gitter des Schloßgartens bemerkte man noch die brillante Uniform der Guardia reale. In den industriellen Stadttheilen war Alles bei den gewohnten Beschäftigungen. Bon Enthusiasmus ließ sich hier trotz der seit dem Morgen fortgesetzten Um¬ züge künstlich fanatirsiter Evviva-Unser kaum eine Spur bemerken. Indessen Enthusiasmus war nöthig, somol des Inlands als auch des Auslands wegen. Es wurde zu dem Zwecke in der üblichen eindringlichen Weise die allgemeine Illumination angesagt. — wer hätte gewagt, sich einem solchen Befehl zu entziehn? -- Am Nachmittage erfuhr man, daß Garibaldi ein neues Ministerium mit Liborio Romano an der Spitze gebildet habe; am Abend sprach man schon davon, daß von diesem Ministerium 65,000 Ducati gespendet worden seien, um die schlummernden patriotischen Gefühle der Nea¬ politaner zur Extase zu erwecken. Ebenso hatte der verstorbene König seine lumpige Noyalistengarde zum Angriff auf die liberale Stadt begeistert. Einen wunderbaren, einen unauslöschlichen Eindruck machte übrigens auch dies in der ganzen Stadt improvisirte Volksfest, namentlich in der Toledostraße. Zwi¬ schen den himmelhohen, bis oben mit Lampions und Tricoloren geschmückten Häusern drängte sich Wagen an Wagen langsam und majestätisch durch eine unzählbare, mit Fahnen, Schärpen und Cocarden bunt ausgeputzte Volks- masse. Auf den Wagen standen, in der eigenthümlichen Beleuchtung sich rei¬ zend ausnehmend, in Weiß mit tricoloren Schärpen oder in die garibaldische rothe Blouse gekleidet, Mädchen und Frauen, die Fahnen und Dolche schwan¬ gen und zum Einstimmen in das betäubende Evviva-Geschrei aufforderten. Neben den Weibern sah man, Fackeln in den Händen, zum Theil in wvhldrap- pirten Lumpen, zum Theil auch in wirklich gelungenen Costümen. junge Män¬ ner mit allen Abzeichen des revolutionären Italiens, bisweilen auch Geistliche mit einer Schärpe über der schwarzen Sutane, oft zwölf Personen auf einem viersitzigen Wagen. Wildaussehende Proletarier waren überall vertheilt, um den zu Wagen und zu Fuß Vorüberziehenden brennende Fackeln nufzu- nöthigen — man brauchte dafür nur ein Almosen zugeben; denn die Regier¬ ung hatte Alles bezahlt. Je später der Abend, um so entsetzlicher wurde die

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/43>, abgerufen am 15.01.2025.