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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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geschlagen, so beeilt man sich, sie bei der Spitze aufzuheben und mit einer
Verbeugung ihm wieder zu überreichen. Nur selten ein hitziger Ausdruck; nie
gemeine Roheit, man glaubt sich in eine andere Zeit versetzt. -- Aber die
Sache hat noch eine andere Seite. -- Dort in der Schenke, so wüst es zu¬
geht, hat man das Gefühl der Realität; es ist deutsches Leben, das ver¬
worren und unschön, aber doch mit Wärme, mit völliger Betheiligung des
Gemüths, sich regt: hier im Salon wissen wir nicht, um was es sich
eigentlich handelt. Dieser Aufwand von Geist und Scharfsinn und doch kein
eigentlicher Zweck! -- Damit hat man zugleich 5as Verhältniß Leibnitz' zu
Spener, Thomasius u. s. w.: durch seine Bildung stand er über, d. h. auch
außer seiner Zeit; seine Wirksamkeit konnte nur der Zukunft gelten. Und
diese erfolgte in der That erst durch Wolf, dann durch Lessing: und wäre
Goethe nicht zufällig auf Spinoza gerathen, so wäre er der unmittelbarste
Nachfolger von Leibnitz geworden. Denn an Talent sehr verschieden, zeigt
der Geist dieser Männer eine ganz wunderbare Verwandtschaft: es läßt sich das
im Einzelnen begründen.

Leibnitz hatte nicht immer, aber von Zeit zu Zeit ein Bewußtsein dieser
Stellung: viel deutlicher als in den Verhandlungen mit Bossuet tritt das in
den Briefen' an den Landgrafen Ernst hervor. -- Der alte Herr zählte jetzt
(1691) 68 Jahr; nach einem wilden abenteuerlichen Leben hatte er sich auf seiner
Beste Rheinfels zur Ruhe gesetzt, sammelte eine große Bibliothek, die leider
kurz vor seinem Tode verbrannte, und führte eine Korrespondenz von unglaub¬
licher Ausdehnung, über politische und religiöse Angelegenheiten, in einem
Französisch, wie es weder vorher noch nachher je geschrieben ist. und von
dem aus einem Brief an Leibnitz, 18. December 1691, hier eine Stelle stehn
mag. Vorher macht er den Leibnitzischcn Unterschied zwischen formellen und
materiellen Ketzern lächerlich. 5tous autres OiMoIiczues, e'est ii. ein-e ceux
<mi L'sntsmleut g. 1" reliZlon et Z. son int^red, teirovs uns tout hintre eon-
cluite; Z. skvoir cle us vouloir avoir l'erunt xartage ni t'euclu on tue; ^je
veux all-e, it vaut et taut dieir mieux, yue tous Je8 sie non8 devoz^s (die
von uns Abgeirrten) aillent je us Lg.is c>ü (d. h. zum Teufel), yue non, yue
xvur une Mix xlktree, xour ne dirs ^e ne sg.is hum, xrejuäieier an re8te
et an xriueiMl ä'auxres Ac nous (wie Spinola); ltÜLsons, xour le eure
kranedemeut, plutot aller les ?i'oteswus (puisqu' g.U88i Kien ils le veulent
ainsi et <zue 8'vu est <Mr kalt) la on ils veulent (d. h. wieder zum Teufel),
yue xar un ^e ne sais c^uel plus mal yue 1'Ker^8le nome mauclit s^irore-
tisme inkeeter ce qui vous reste an äewis et uautraAe ac ig. moitie
M^si 6e I'Luioxe. Bossuet hatte sich höflicher ausgedrückt, aber im Ganzen
hatte er dasselbe gesagt. Gleichzeitig schrieb der Landgraf gegen Leibnitz.
Seckendorf und Ludolf eine Satire, ac trMIio Lutderauo, in welcher er es von


geschlagen, so beeilt man sich, sie bei der Spitze aufzuheben und mit einer
Verbeugung ihm wieder zu überreichen. Nur selten ein hitziger Ausdruck; nie
gemeine Roheit, man glaubt sich in eine andere Zeit versetzt. — Aber die
Sache hat noch eine andere Seite. — Dort in der Schenke, so wüst es zu¬
geht, hat man das Gefühl der Realität; es ist deutsches Leben, das ver¬
worren und unschön, aber doch mit Wärme, mit völliger Betheiligung des
Gemüths, sich regt: hier im Salon wissen wir nicht, um was es sich
eigentlich handelt. Dieser Aufwand von Geist und Scharfsinn und doch kein
eigentlicher Zweck! — Damit hat man zugleich 5as Verhältniß Leibnitz' zu
Spener, Thomasius u. s. w.: durch seine Bildung stand er über, d. h. auch
außer seiner Zeit; seine Wirksamkeit konnte nur der Zukunft gelten. Und
diese erfolgte in der That erst durch Wolf, dann durch Lessing: und wäre
Goethe nicht zufällig auf Spinoza gerathen, so wäre er der unmittelbarste
Nachfolger von Leibnitz geworden. Denn an Talent sehr verschieden, zeigt
der Geist dieser Männer eine ganz wunderbare Verwandtschaft: es läßt sich das
im Einzelnen begründen.

Leibnitz hatte nicht immer, aber von Zeit zu Zeit ein Bewußtsein dieser
Stellung: viel deutlicher als in den Verhandlungen mit Bossuet tritt das in
den Briefen' an den Landgrafen Ernst hervor. — Der alte Herr zählte jetzt
(1691) 68 Jahr; nach einem wilden abenteuerlichen Leben hatte er sich auf seiner
Beste Rheinfels zur Ruhe gesetzt, sammelte eine große Bibliothek, die leider
kurz vor seinem Tode verbrannte, und führte eine Korrespondenz von unglaub¬
licher Ausdehnung, über politische und religiöse Angelegenheiten, in einem
Französisch, wie es weder vorher noch nachher je geschrieben ist. und von
dem aus einem Brief an Leibnitz, 18. December 1691, hier eine Stelle stehn
mag. Vorher macht er den Leibnitzischcn Unterschied zwischen formellen und
materiellen Ketzern lächerlich. 5tous autres OiMoIiczues, e'est ii. ein-e ceux
<mi L'sntsmleut g. 1» reliZlon et Z. son int^red, teirovs uns tout hintre eon-
cluite; Z. skvoir cle us vouloir avoir l'erunt xartage ni t'euclu on tue; ^je
veux all-e, it vaut et taut dieir mieux, yue tous Je8 sie non8 devoz^s (die
von uns Abgeirrten) aillent je us Lg.is c>ü (d. h. zum Teufel), yue non, yue
xvur une Mix xlktree, xour ne dirs ^e ne sg.is hum, xrejuäieier an re8te
et an xriueiMl ä'auxres Ac nous (wie Spinola); ltÜLsons, xour le eure
kranedemeut, plutot aller les ?i'oteswus (puisqu' g.U88i Kien ils le veulent
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yue xar un ^e ne sais c^uel plus mal yue 1'Ker^8le nome mauclit s^irore-
tisme inkeeter ce qui vous reste an äewis et uautraAe ac ig. moitie
M^si 6e I'Luioxe. Bossuet hatte sich höflicher ausgedrückt, aber im Ganzen
hatte er dasselbe gesagt. Gleichzeitig schrieb der Landgraf gegen Leibnitz.
Seckendorf und Ludolf eine Satire, ac trMIio Lutderauo, in welcher er es von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/214>, abgerufen am 15.01.2025.