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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band.

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Die Politik Preußens.

Noch nie sind die deutschen Eisenbahnen so stark benutzt worden, den ver¬
schiedenartigsten Interessen der zusammenströmenden Reisenden zu dienen, als
in diesem Jahre. Zahlreich waren die Versammlungen, massenhaft der Be¬
such, eine eigenthümliche Geselligkeit mit neuer Ordnung und neuem Ceremo-
niell beginnt sich zu entwickeln, die wandernden Convente sind schnell ein wich¬
tiges Moment der deutschen Bildung geworden; sie sind, welches auch ihr
nächster Zweck sei, von großer politischer Bedeutung, denn sie fördern in Tau¬
senden das Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine männliche Repräsenta¬
tion, sie popularisiren die Ideen, gewöhnen an Disciplin und geben durch das
gesellschaftliche Behagen und eine gehobene Stimmung in schöner Natur, in
froher Reiselaune unter hundert Gleichgesinnten auch dem Leben der Kleinen
eine Bereicherung, die gar nicht hoch genug anzuschlagen ist. -- Noch länger
als das Volk benutzen die Monarchen Europas das späte Sonnenlicht dieses
Jahres zu Besuchen, bei denen die höchsten Interessen ihrer Völker wenigstens
zur Sprache kommen. Das Vierteljahr von Baden bis Warschau umfaßt
viele fürstliche Reisen, und die, welche zunächst bevorstehn, werden von den
Deutschen mit sehr verschiedenen Empfindungen betrachtet. Die officiösen Fe¬
dern werden nicht müde zu versichern, daß die Zusammenkunft in Warschau
nichts weniger beabsichtige, als eine Wiederherstellung der heiligen Allianz, daß
Preußen sich sorgfältig vor übereilten Engagements hüten werde, und daß die
Annahme thöricht sei, die Entrevue mit dem Kaiser von Nußland werde eine
Entfremdung mit England zur Folge haben.

Wir wissen, wie wenig solche Versicherungen bedeuten, welche im besten
Fall die Wünsche eines einzelnen Beamten oder einer Partei ausdrücken. Und
doch sind wir nicht abgeneigt, ihnen diesmal zu glauben, zunächst deshalb,
weil wir überzeugt sind, daß auch in Preußen die große Politik nicht mehr
durch die Regierung allein gemacht wird. Das Urtheil der hunderttausend
Gebildeten, welche zusammen die öffentliche Meinung darstellen, hat bereits so
großen Einfluß auf die Stimmungen der Regierung gewonnen, und wirkt schon
sa stark abhaltend und antreibend, daß auch die preußische Negierung schwer¬
lich wichtige Schritte nach einer Richtung thun wird, welcher die öffentliche
Meinung Preußens und Deutschlands entschieden widerstrebt. Ja, die Regie¬
renden werden im Stillen mehr, als sie selbst ahnen, und vor Allem, als sie
selbst zugeben mögen, durch die Strömungen der öffentlichen Meinung, soweit


Die Politik Preußens.

Noch nie sind die deutschen Eisenbahnen so stark benutzt worden, den ver¬
schiedenartigsten Interessen der zusammenströmenden Reisenden zu dienen, als
in diesem Jahre. Zahlreich waren die Versammlungen, massenhaft der Be¬
such, eine eigenthümliche Geselligkeit mit neuer Ordnung und neuem Ceremo-
niell beginnt sich zu entwickeln, die wandernden Convente sind schnell ein wich¬
tiges Moment der deutschen Bildung geworden; sie sind, welches auch ihr
nächster Zweck sei, von großer politischer Bedeutung, denn sie fördern in Tau¬
senden das Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine männliche Repräsenta¬
tion, sie popularisiren die Ideen, gewöhnen an Disciplin und geben durch das
gesellschaftliche Behagen und eine gehobene Stimmung in schöner Natur, in
froher Reiselaune unter hundert Gleichgesinnten auch dem Leben der Kleinen
eine Bereicherung, die gar nicht hoch genug anzuschlagen ist. — Noch länger
als das Volk benutzen die Monarchen Europas das späte Sonnenlicht dieses
Jahres zu Besuchen, bei denen die höchsten Interessen ihrer Völker wenigstens
zur Sprache kommen. Das Vierteljahr von Baden bis Warschau umfaßt
viele fürstliche Reisen, und die, welche zunächst bevorstehn, werden von den
Deutschen mit sehr verschiedenen Empfindungen betrachtet. Die officiösen Fe¬
dern werden nicht müde zu versichern, daß die Zusammenkunft in Warschau
nichts weniger beabsichtige, als eine Wiederherstellung der heiligen Allianz, daß
Preußen sich sorgfältig vor übereilten Engagements hüten werde, und daß die
Annahme thöricht sei, die Entrevue mit dem Kaiser von Nußland werde eine
Entfremdung mit England zur Folge haben.

Wir wissen, wie wenig solche Versicherungen bedeuten, welche im besten
Fall die Wünsche eines einzelnen Beamten oder einer Partei ausdrücken. Und
doch sind wir nicht abgeneigt, ihnen diesmal zu glauben, zunächst deshalb,
weil wir überzeugt sind, daß auch in Preußen die große Politik nicht mehr
durch die Regierung allein gemacht wird. Das Urtheil der hunderttausend
Gebildeten, welche zusammen die öffentliche Meinung darstellen, hat bereits so
großen Einfluß auf die Stimmungen der Regierung gewonnen, und wirkt schon
sa stark abhaltend und antreibend, daß auch die preußische Negierung schwer¬
lich wichtige Schritte nach einer Richtung thun wird, welcher die öffentliche
Meinung Preußens und Deutschlands entschieden widerstrebt. Ja, die Regie¬
renden werden im Stillen mehr, als sie selbst ahnen, und vor Allem, als sie
selbst zugeben mögen, durch die Strömungen der öffentlichen Meinung, soweit


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[0126] Die Politik Preußens. Noch nie sind die deutschen Eisenbahnen so stark benutzt worden, den ver¬ schiedenartigsten Interessen der zusammenströmenden Reisenden zu dienen, als in diesem Jahre. Zahlreich waren die Versammlungen, massenhaft der Be¬ such, eine eigenthümliche Geselligkeit mit neuer Ordnung und neuem Ceremo- niell beginnt sich zu entwickeln, die wandernden Convente sind schnell ein wich¬ tiges Moment der deutschen Bildung geworden; sie sind, welches auch ihr nächster Zweck sei, von großer politischer Bedeutung, denn sie fördern in Tau¬ senden das Gefühl der Zusammengehörigkeit und eine männliche Repräsenta¬ tion, sie popularisiren die Ideen, gewöhnen an Disciplin und geben durch das gesellschaftliche Behagen und eine gehobene Stimmung in schöner Natur, in froher Reiselaune unter hundert Gleichgesinnten auch dem Leben der Kleinen eine Bereicherung, die gar nicht hoch genug anzuschlagen ist. — Noch länger als das Volk benutzen die Monarchen Europas das späte Sonnenlicht dieses Jahres zu Besuchen, bei denen die höchsten Interessen ihrer Völker wenigstens zur Sprache kommen. Das Vierteljahr von Baden bis Warschau umfaßt viele fürstliche Reisen, und die, welche zunächst bevorstehn, werden von den Deutschen mit sehr verschiedenen Empfindungen betrachtet. Die officiösen Fe¬ dern werden nicht müde zu versichern, daß die Zusammenkunft in Warschau nichts weniger beabsichtige, als eine Wiederherstellung der heiligen Allianz, daß Preußen sich sorgfältig vor übereilten Engagements hüten werde, und daß die Annahme thöricht sei, die Entrevue mit dem Kaiser von Nußland werde eine Entfremdung mit England zur Folge haben. Wir wissen, wie wenig solche Versicherungen bedeuten, welche im besten Fall die Wünsche eines einzelnen Beamten oder einer Partei ausdrücken. Und doch sind wir nicht abgeneigt, ihnen diesmal zu glauben, zunächst deshalb, weil wir überzeugt sind, daß auch in Preußen die große Politik nicht mehr durch die Regierung allein gemacht wird. Das Urtheil der hunderttausend Gebildeten, welche zusammen die öffentliche Meinung darstellen, hat bereits so großen Einfluß auf die Stimmungen der Regierung gewonnen, und wirkt schon sa stark abhaltend und antreibend, daß auch die preußische Negierung schwer¬ lich wichtige Schritte nach einer Richtung thun wird, welcher die öffentliche Meinung Preußens und Deutschlands entschieden widerstrebt. Ja, die Regie¬ renden werden im Stillen mehr, als sie selbst ahnen, und vor Allem, als sie selbst zugeben mögen, durch die Strömungen der öffentlichen Meinung, soweit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_110347/126>, abgerufen am 15.01.2025.