Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.auf die Austheilung der Sakramente, die Predigt, das geistliche Lied und den Wahres und Falsches war in diesen Vorwürfen gemischt. Unzweifelhaft Beide Parteien waren darin einig, daß die menschliche Natur verderbt auf die Austheilung der Sakramente, die Predigt, das geistliche Lied und den Wahres und Falsches war in diesen Vorwürfen gemischt. Unzweifelhaft Beide Parteien waren darin einig, daß die menschliche Natur verderbt <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0472" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/110278"/> <p xml:id="ID_1422" prev="#ID_1421"> auf die Austheilung der Sakramente, die Predigt, das geistliche Lied und den<lb/> sogenannten Glauben, d. h. das Hersagen des Katechismus und die Polemik<lb/> gegen diejenigen, die gegen denselben raisonnirten. Wer sich in diesen Punk¬<lb/> ten zur Kirche hielt, galt für rechtgläubig, so wenig er sich auch sonst bemühte<lb/> sein Leben zu heiligen. Im Gegentheil waren die rechtglaubigsten Universi¬<lb/> täten jener Zeit in sittlicher Hinsicht die verworfensten. Als daher Spener<lb/> 1675 seine rM äLsiclsi-ig, herausgab und nachwies, daß mit jenen guten<lb/> Werken noch nicht viel gethan sei, daß es vielmehr darauf ankäme, bei den<lb/> Geistlichen wie bei den Laien, ein wahrhaft christliches Leben durchzuführen,<lb/> ein Leben des Gebets, der Arbeit und Entsagung, erscholl ein ziemlich allge¬<lb/> meiner Ruf der Zustimmung. Hin und wieder äußerte sich zwar schon in<lb/> den nächst folgenden Jahren einiges Mißbehagen darüber, daß man an das<lb/> geistliche Leben gar zu hohe Ansprüche machte, daß man die Laien gar zu<lb/> sehr heranzog, ihrem religiösen Gefühl eine gar zu große Thätigkeit einräumte,<lb/> daß man endlich das Gemüthsleben auf Kosten der sogenannten wissenschaft¬<lb/> lichen Theologie begünstigte. Allein der Sturm brach erst los, als 1688 einige<lb/> Privatdocenten an der Universität Leipzig auf eigene Hand dieses christliche<lb/> Leben einzuführen unternahmen und, wie es nicht zu vermeiden war, die bis¬<lb/> herige Thätigkeit der ordentlichen Professoren einer ziemlich scharfen Kritik un¬<lb/> terzogen. Sie machten Schwarm, also waren sie Schwärmer, sie erklärten die<lb/> Lehrbücher der zünftigen Theologie für gleichgiltig, also waren sie Ketzer, sie<lb/> verlangten auf Erden ein gottseliges Leben und eine vollständige Wieder¬<lb/> geburt, die erst jenseits zu erreichen ist, also waren sie Heuchler.</p><lb/> <p xml:id="ID_1423"> Wahres und Falsches war in diesen Vorwürfen gemischt. Unzweifelhaft<lb/> lag schon im ersten Auftreten des Pietismus etwas Krankhaftes, und wäre<lb/> es ihm wirklich gelungen die ganze deutsche Cultur zu beherrschen, so wäre<lb/> dieselbe in dumpfer Gefühlsschwärmerei untergegangen. Die Polemik dauerte<lb/> etwa ein Menschenalter sort. dann geriet!) sie in Vergessenheit, weil beiden<lb/> Parteien ein gemeinsamer, gefährlicherer Feind gegenüber trat.</p><lb/> <p xml:id="ID_1424" next="#ID_1425"> Beide Parteien waren darin einig, daß die menschliche Natur verderbt<lb/> und das Leben ein Jammerthal sei, daß nur die Gnade Gottes, durch Glau¬<lb/> ben und Gebet herab beschworen, den sündhaften Mensche^ erlösen könne.<lb/> Was die Orthodoxen mit den Lippen bekannten, das suchten die Pietisten im<lb/> Herzen zur Wahrheit zu machen; was jene durch die äußern Gnadenmittel<lb/> der Kirche beschwichtigten, suchten diese mit bitterm Ernst über das ganze Le¬<lb/> ben auszudehnen. Die letztern, nur mit dem Gemüth beschäftigt, verachteten<lb/> die gesammte Schulweisheit; die erstern konnten sie zwar nicht ganz entbeh¬<lb/> ren — denn in ihrer Polemik gegen die Reformirten und Katholiken kam es ihnen<lb/> hauptsächlich darauf an, sich über die Perwandlung der Substanzen im Abend¬<lb/> mahl klar zu machen, was nur durch philosophische Erläuterung des Begriffs</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0472]
auf die Austheilung der Sakramente, die Predigt, das geistliche Lied und den
sogenannten Glauben, d. h. das Hersagen des Katechismus und die Polemik
gegen diejenigen, die gegen denselben raisonnirten. Wer sich in diesen Punk¬
ten zur Kirche hielt, galt für rechtgläubig, so wenig er sich auch sonst bemühte
sein Leben zu heiligen. Im Gegentheil waren die rechtglaubigsten Universi¬
täten jener Zeit in sittlicher Hinsicht die verworfensten. Als daher Spener
1675 seine rM äLsiclsi-ig, herausgab und nachwies, daß mit jenen guten
Werken noch nicht viel gethan sei, daß es vielmehr darauf ankäme, bei den
Geistlichen wie bei den Laien, ein wahrhaft christliches Leben durchzuführen,
ein Leben des Gebets, der Arbeit und Entsagung, erscholl ein ziemlich allge¬
meiner Ruf der Zustimmung. Hin und wieder äußerte sich zwar schon in
den nächst folgenden Jahren einiges Mißbehagen darüber, daß man an das
geistliche Leben gar zu hohe Ansprüche machte, daß man die Laien gar zu
sehr heranzog, ihrem religiösen Gefühl eine gar zu große Thätigkeit einräumte,
daß man endlich das Gemüthsleben auf Kosten der sogenannten wissenschaft¬
lichen Theologie begünstigte. Allein der Sturm brach erst los, als 1688 einige
Privatdocenten an der Universität Leipzig auf eigene Hand dieses christliche
Leben einzuführen unternahmen und, wie es nicht zu vermeiden war, die bis¬
herige Thätigkeit der ordentlichen Professoren einer ziemlich scharfen Kritik un¬
terzogen. Sie machten Schwarm, also waren sie Schwärmer, sie erklärten die
Lehrbücher der zünftigen Theologie für gleichgiltig, also waren sie Ketzer, sie
verlangten auf Erden ein gottseliges Leben und eine vollständige Wieder¬
geburt, die erst jenseits zu erreichen ist, also waren sie Heuchler.
Wahres und Falsches war in diesen Vorwürfen gemischt. Unzweifelhaft
lag schon im ersten Auftreten des Pietismus etwas Krankhaftes, und wäre
es ihm wirklich gelungen die ganze deutsche Cultur zu beherrschen, so wäre
dieselbe in dumpfer Gefühlsschwärmerei untergegangen. Die Polemik dauerte
etwa ein Menschenalter sort. dann geriet!) sie in Vergessenheit, weil beiden
Parteien ein gemeinsamer, gefährlicherer Feind gegenüber trat.
Beide Parteien waren darin einig, daß die menschliche Natur verderbt
und das Leben ein Jammerthal sei, daß nur die Gnade Gottes, durch Glau¬
ben und Gebet herab beschworen, den sündhaften Mensche^ erlösen könne.
Was die Orthodoxen mit den Lippen bekannten, das suchten die Pietisten im
Herzen zur Wahrheit zu machen; was jene durch die äußern Gnadenmittel
der Kirche beschwichtigten, suchten diese mit bitterm Ernst über das ganze Le¬
ben auszudehnen. Die letztern, nur mit dem Gemüth beschäftigt, verachteten
die gesammte Schulweisheit; die erstern konnten sie zwar nicht ganz entbeh¬
ren — denn in ihrer Polemik gegen die Reformirten und Katholiken kam es ihnen
hauptsächlich darauf an, sich über die Perwandlung der Substanzen im Abend¬
mahl klar zu machen, was nur durch philosophische Erläuterung des Begriffs
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2025 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |