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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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sen. die von ihnen zurück geblieben find. Wir glauben, daß auch die Geschichte
des Christenthums einmal ihren Mommsen finden wird, der sie einfach mit
dem zweiten Jahrhundert beginnt. Freilich wäre es wünschenswert!), über
das. was vorher gegangen ist, etwas Bestimmtes zu erfahren, aber die echte
Wissenschaft bescheidet sich, wo keine beglaubigten Documente vorliegen, mit
dem Resultat, daß sich eben darüber nichts Bestimmtes ausmachen laßt. Von
Seiten der modernen Theologen hat man gegen Strauß immer den histori¬
schen Christus hervorgehoben; aber man hat ihn da gesucht, wo er nicht zu
finden ist.

Der historische Christus ist nicht der Christus der Evangelien. Wenn
wir ihn aus den Evangelien kennen lernen wollen, ohne dabei die Neminis'
lenzen unsres Katechismus ins Spiel zu bringen, so werden wir kein sehr
deutliches Bild empfangen. Die Belege für seine Göttlichkeit sind fast durch¬
weg für die jüdischen Messiasgläubigen berechnet. Die Geschlechtsregister,
die nicht einmal untereinander übereinstimmen, sind uns vollkommen gleich-
giltig; die Lehren erkennen wir eben nur insofern als göttlich, als sie mit der
unmittelbaren Stimme Gottes in uns übereinstimmen, und was die Wunder
betrifft, so würden sie, auch ihre absolute Richtigkeit vorausgesetzt, doch lange
nicht ausreichen, uns den Weltheiland zu .malen. Kranke zu heilen, eine
hungrige Menschenmenge mit wenig Material zu speisen, selbst Todte zu er¬
wecken -- das ist alles zwar sehr viel, aber ein Unbefangener kann sich keine
Borstellung machen, wie dadurch die Welt erlöst werden soll. Noch immer
leiden viele Menschen Hunger, noch unmer sterben sie. -- ja auch Laznrus
scheint später wieder gestorben zu sein.

Der historische Christus hat aber viel größere Wunder gethan, viel
mehr zur Erlösung des Menschengeschlechts geschaffen, als wir aus diesen al¬
ten Büchern lesen. Der historische Christus hat die gemeine Lebensgier des
alten römischen Reichs, das als Weltreich allen Geist niederdrückte, ausgerot¬
tet und den Menschen in die Geheimnisse des Geistes eingeführt. Der histo¬
rische Christus hat, als im Lauf der Zeiten eine neue Barbarei und Anarchie
die Welt bedrohte, eine starke gewaltige Seele erweckt, die zur Bändigung
der germanischen Barbaren jenes wunderbare Gebäude der Hierarchie auf¬
richtete, das im scheinbaren Widerspruch mit allen Gefühlen der menschlichen
Natur dennoch nothwendig war, die Cultur der Menschheit zu retten. Der
historische Christus hat endlich, als die Zeit gekommen war, eine ebenso
starke Seele erweckt, die dies überflüssig gewordene Band wieder sprengte und
dem reif gewordenen Gemüth die Freiheit erkämpfte. Bonifacius, Gregor
der Siebente, Luther siud ganz andere Zeugen für den historischen, für den
lebendigen Christus, als Marcus und Lucas. Und nicht blos in diesen Ge¬
waltigen hat sich Christus offenbart, er hat unzählige Werte der Aufopferung,


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sen. die von ihnen zurück geblieben find. Wir glauben, daß auch die Geschichte
des Christenthums einmal ihren Mommsen finden wird, der sie einfach mit
dem zweiten Jahrhundert beginnt. Freilich wäre es wünschenswert!), über
das. was vorher gegangen ist, etwas Bestimmtes zu erfahren, aber die echte
Wissenschaft bescheidet sich, wo keine beglaubigten Documente vorliegen, mit
dem Resultat, daß sich eben darüber nichts Bestimmtes ausmachen laßt. Von
Seiten der modernen Theologen hat man gegen Strauß immer den histori¬
schen Christus hervorgehoben; aber man hat ihn da gesucht, wo er nicht zu
finden ist.

Der historische Christus ist nicht der Christus der Evangelien. Wenn
wir ihn aus den Evangelien kennen lernen wollen, ohne dabei die Neminis'
lenzen unsres Katechismus ins Spiel zu bringen, so werden wir kein sehr
deutliches Bild empfangen. Die Belege für seine Göttlichkeit sind fast durch¬
weg für die jüdischen Messiasgläubigen berechnet. Die Geschlechtsregister,
die nicht einmal untereinander übereinstimmen, sind uns vollkommen gleich-
giltig; die Lehren erkennen wir eben nur insofern als göttlich, als sie mit der
unmittelbaren Stimme Gottes in uns übereinstimmen, und was die Wunder
betrifft, so würden sie, auch ihre absolute Richtigkeit vorausgesetzt, doch lange
nicht ausreichen, uns den Weltheiland zu .malen. Kranke zu heilen, eine
hungrige Menschenmenge mit wenig Material zu speisen, selbst Todte zu er¬
wecken — das ist alles zwar sehr viel, aber ein Unbefangener kann sich keine
Borstellung machen, wie dadurch die Welt erlöst werden soll. Noch immer
leiden viele Menschen Hunger, noch unmer sterben sie. — ja auch Laznrus
scheint später wieder gestorben zu sein.

Der historische Christus hat aber viel größere Wunder gethan, viel
mehr zur Erlösung des Menschengeschlechts geschaffen, als wir aus diesen al¬
ten Büchern lesen. Der historische Christus hat die gemeine Lebensgier des
alten römischen Reichs, das als Weltreich allen Geist niederdrückte, ausgerot¬
tet und den Menschen in die Geheimnisse des Geistes eingeführt. Der histo¬
rische Christus hat, als im Lauf der Zeiten eine neue Barbarei und Anarchie
die Welt bedrohte, eine starke gewaltige Seele erweckt, die zur Bändigung
der germanischen Barbaren jenes wunderbare Gebäude der Hierarchie auf¬
richtete, das im scheinbaren Widerspruch mit allen Gefühlen der menschlichen
Natur dennoch nothwendig war, die Cultur der Menschheit zu retten. Der
historische Christus hat endlich, als die Zeit gekommen war, eine ebenso
starke Seele erweckt, die dies überflüssig gewordene Band wieder sprengte und
dem reif gewordenen Gemüth die Freiheit erkämpfte. Bonifacius, Gregor
der Siebente, Luther siud ganz andere Zeugen für den historischen, für den
lebendigen Christus, als Marcus und Lucas. Und nicht blos in diesen Ge¬
waltigen hat sich Christus offenbart, er hat unzählige Werte der Aufopferung,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/365>, abgerufen am 24.07.2024.