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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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lenkt, auf die wahre Signatur des neuen Zeitalters. Dies und nicht etwa
der Sturz der Theologie ist die historische Stellung seines Werks. Die Theo¬
logie hat schon schwerere Stürme überstanden und ihr Reich hat sich seit 1835
nicht vermindert, sondern vermehrt: das ist auch eine von den Realitäten,
vor denen man sein Auge nicht verschließen darf.

Es könnte nach dem Vorigen scheinen, als wollten wir über die hegel-
sche Philosophie ungünstiger urtheilen, als wir sonst gethan. Das ist nicht
d.er Fall. Sie war eine nützliche Schule für unser Volk gewesen, eine Schule,
in der wir gelernt haben die Begriffe flüssig zu machen, den todten Vorrath
empirischer Wahrnehmungen und hergebrachter Meinungen in Leben und Be¬
wegung zu sehen. Es war eine große Schule zur Freiheit, aber es' war hohe
Zeit-, daß wir die Schule verließen; denn wir waren in der dringendsten Ge¬
fahr, gesinnungslose Sophisten zu werden.

Was nun Strauß hauptsächlich zu seiner Rolle befähigte, war seine tiefe
Wahrheitsliebe. Nicht ohne Grund haben wir vorhin an Lessing erinnert,
selbst in der Ausdrucksweise erinnert Strauß zuweilen an ihn -- das ist frei¬
lich ebensowol ein Unterschied, als eine Ähnlichkeit. Es ist bei beiden nicht
blos Haß> gegen die Unwahrheit, sondern auch gegen ihre schwächeren For¬
men, gegen die Jncorrectheit und Ungründlichkeit. Wenn Leibnitz den So-
cinianern einen falschen Syllogismus nachweist, so würde Strauß daran eine
ebenso unbefangene Freude haben, als Lessing. Zwar ist Strauß einheitlicher
geformt und viel weniger reich, aber eim Zug, der mit Lessings sonstigem
Wesen in scharfem Contrast steht, fehlt" auch bei ihm nicht ganz^ ein Zug,
den man nnr uneigentlich mystisch nennen darf: die Vorliebe für das Viel¬
leicht! das Uebertreten ins Gebiet der Ahnung. Freilich sind Beide kräftig
genug, wo die Ahnung sich übernimmt, ihr sofort die Grenze anzuweisen'.

Aus diesem Haß gegen alles Ungründliche erklärt sich der Tori, in wel¬
chem der moderne Synkretismus zwischen Vernunft und Unvernunft besprochen
wird, ein Ton, den wir herzlich und vollständig billigen; denn nichts ist! ein
gefährlicheres Gift für Verstand und Redlichkeit eines' Volkes, als diese Nei¬
gung, vermitteln zu wollen, was nicht zu vermitteln ist.

Indem' wir also die Aufforderung des Verfassers, uns selber klav zu
machen über das, was wir. im Christenthum noch glauben oder nicht glauben,
in ihrer vollen Berechtigung anerkennen, müssen wir ihn davor warnen, aus
den Resultaten seines eignen Nachdenkens voreilig auf die Resultate bei An¬
dern zu schließen. Die Kirche und was ihr zu Grunde liegt ist stärker als
er glaubt. "Ist es doch, sagt er in der Vorrede, unter allen nur einiger¬
maßen Gebildeten und Denkenden längst ein offenes Geheimniß, daß keiner
mehr an das kirchliche Dogma glaubt. Zu glauben glanvt, das räume ich
em; aber wirklich glaubt, das leugne ich." -- Ist das nicht ein voreiliges


lenkt, auf die wahre Signatur des neuen Zeitalters. Dies und nicht etwa
der Sturz der Theologie ist die historische Stellung seines Werks. Die Theo¬
logie hat schon schwerere Stürme überstanden und ihr Reich hat sich seit 1835
nicht vermindert, sondern vermehrt: das ist auch eine von den Realitäten,
vor denen man sein Auge nicht verschließen darf.

Es könnte nach dem Vorigen scheinen, als wollten wir über die hegel-
sche Philosophie ungünstiger urtheilen, als wir sonst gethan. Das ist nicht
d.er Fall. Sie war eine nützliche Schule für unser Volk gewesen, eine Schule,
in der wir gelernt haben die Begriffe flüssig zu machen, den todten Vorrath
empirischer Wahrnehmungen und hergebrachter Meinungen in Leben und Be¬
wegung zu sehen. Es war eine große Schule zur Freiheit, aber es' war hohe
Zeit-, daß wir die Schule verließen; denn wir waren in der dringendsten Ge¬
fahr, gesinnungslose Sophisten zu werden.

Was nun Strauß hauptsächlich zu seiner Rolle befähigte, war seine tiefe
Wahrheitsliebe. Nicht ohne Grund haben wir vorhin an Lessing erinnert,
selbst in der Ausdrucksweise erinnert Strauß zuweilen an ihn — das ist frei¬
lich ebensowol ein Unterschied, als eine Ähnlichkeit. Es ist bei beiden nicht
blos Haß> gegen die Unwahrheit, sondern auch gegen ihre schwächeren For¬
men, gegen die Jncorrectheit und Ungründlichkeit. Wenn Leibnitz den So-
cinianern einen falschen Syllogismus nachweist, so würde Strauß daran eine
ebenso unbefangene Freude haben, als Lessing. Zwar ist Strauß einheitlicher
geformt und viel weniger reich, aber eim Zug, der mit Lessings sonstigem
Wesen in scharfem Contrast steht, fehlt" auch bei ihm nicht ganz^ ein Zug,
den man nnr uneigentlich mystisch nennen darf: die Vorliebe für das Viel¬
leicht! das Uebertreten ins Gebiet der Ahnung. Freilich sind Beide kräftig
genug, wo die Ahnung sich übernimmt, ihr sofort die Grenze anzuweisen'.

Aus diesem Haß gegen alles Ungründliche erklärt sich der Tori, in wel¬
chem der moderne Synkretismus zwischen Vernunft und Unvernunft besprochen
wird, ein Ton, den wir herzlich und vollständig billigen; denn nichts ist! ein
gefährlicheres Gift für Verstand und Redlichkeit eines' Volkes, als diese Nei¬
gung, vermitteln zu wollen, was nicht zu vermitteln ist.

Indem' wir also die Aufforderung des Verfassers, uns selber klav zu
machen über das, was wir. im Christenthum noch glauben oder nicht glauben,
in ihrer vollen Berechtigung anerkennen, müssen wir ihn davor warnen, aus
den Resultaten seines eignen Nachdenkens voreilig auf die Resultate bei An¬
dern zu schließen. Die Kirche und was ihr zu Grunde liegt ist stärker als
er glaubt. „Ist es doch, sagt er in der Vorrede, unter allen nur einiger¬
maßen Gebildeten und Denkenden längst ein offenes Geheimniß, daß keiner
mehr an das kirchliche Dogma glaubt. Zu glauben glanvt, das räume ich
em; aber wirklich glaubt, das leugne ich." — Ist das nicht ein voreiliges


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[0362] lenkt, auf die wahre Signatur des neuen Zeitalters. Dies und nicht etwa der Sturz der Theologie ist die historische Stellung seines Werks. Die Theo¬ logie hat schon schwerere Stürme überstanden und ihr Reich hat sich seit 1835 nicht vermindert, sondern vermehrt: das ist auch eine von den Realitäten, vor denen man sein Auge nicht verschließen darf. Es könnte nach dem Vorigen scheinen, als wollten wir über die hegel- sche Philosophie ungünstiger urtheilen, als wir sonst gethan. Das ist nicht d.er Fall. Sie war eine nützliche Schule für unser Volk gewesen, eine Schule, in der wir gelernt haben die Begriffe flüssig zu machen, den todten Vorrath empirischer Wahrnehmungen und hergebrachter Meinungen in Leben und Be¬ wegung zu sehen. Es war eine große Schule zur Freiheit, aber es' war hohe Zeit-, daß wir die Schule verließen; denn wir waren in der dringendsten Ge¬ fahr, gesinnungslose Sophisten zu werden. Was nun Strauß hauptsächlich zu seiner Rolle befähigte, war seine tiefe Wahrheitsliebe. Nicht ohne Grund haben wir vorhin an Lessing erinnert, selbst in der Ausdrucksweise erinnert Strauß zuweilen an ihn — das ist frei¬ lich ebensowol ein Unterschied, als eine Ähnlichkeit. Es ist bei beiden nicht blos Haß> gegen die Unwahrheit, sondern auch gegen ihre schwächeren For¬ men, gegen die Jncorrectheit und Ungründlichkeit. Wenn Leibnitz den So- cinianern einen falschen Syllogismus nachweist, so würde Strauß daran eine ebenso unbefangene Freude haben, als Lessing. Zwar ist Strauß einheitlicher geformt und viel weniger reich, aber eim Zug, der mit Lessings sonstigem Wesen in scharfem Contrast steht, fehlt" auch bei ihm nicht ganz^ ein Zug, den man nnr uneigentlich mystisch nennen darf: die Vorliebe für das Viel¬ leicht! das Uebertreten ins Gebiet der Ahnung. Freilich sind Beide kräftig genug, wo die Ahnung sich übernimmt, ihr sofort die Grenze anzuweisen'. Aus diesem Haß gegen alles Ungründliche erklärt sich der Tori, in wel¬ chem der moderne Synkretismus zwischen Vernunft und Unvernunft besprochen wird, ein Ton, den wir herzlich und vollständig billigen; denn nichts ist! ein gefährlicheres Gift für Verstand und Redlichkeit eines' Volkes, als diese Nei¬ gung, vermitteln zu wollen, was nicht zu vermitteln ist. Indem' wir also die Aufforderung des Verfassers, uns selber klav zu machen über das, was wir. im Christenthum noch glauben oder nicht glauben, in ihrer vollen Berechtigung anerkennen, müssen wir ihn davor warnen, aus den Resultaten seines eignen Nachdenkens voreilig auf die Resultate bei An¬ dern zu schließen. Die Kirche und was ihr zu Grunde liegt ist stärker als er glaubt. „Ist es doch, sagt er in der Vorrede, unter allen nur einiger¬ maßen Gebildeten und Denkenden längst ein offenes Geheimniß, daß keiner mehr an das kirchliche Dogma glaubt. Zu glauben glanvt, das räume ich em; aber wirklich glaubt, das leugne ich." — Ist das nicht ein voreiliges

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/362>, abgerufen am 25.07.2024.