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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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gewissen Grad kann sich also jeder von seinem subjectiven Standpunkt aus
darüber Rechenschaft geben.

Für uns sind das wichtigste bei jenem Buch nicht die theologischen Strei¬
tigkeiten, die sich daran knüpften, obgleich diese sehr viel dazu beitrugen, das
Aufsetzn und also die Wirkung zu steigern, auch nicht was es in streng
wissenschaftlicher Beziehung geleistet hat. Das Leben Jesu von Strauß bil¬
det den Markstein zweier scharf von einander getrennten Epochen der deutschen
Literatur, von denen wir die zweite noch nicht übersehn können, weil wir
mitten darin stehn und arbeiten, deren Prineip wir aber als einen ganz
entschiedenen Gegensatz gegen die frühere empfinden, die mit Fichte's Wissen¬
schaftslehre beginnt.

Bekanntlich war Lessings Polemik, ehe er die Fragmente herausgab, mehr
gegen die liberale als gegen die orthodoxe Theologie gerichtet. "Mit der Or¬
thodoxie war man, Gott sei Dank! ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr
und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welche eine jede ihren
Weg fortgehn konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was thut man nun?
man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns
zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen."

Was hätte Lessing gesagt, wenn er in unsern Zeiten gelebt hätte! Denn
der alte Rationalismus, der hier gemeint ist, der Abklatsch der Wolf'schen
Philosophie, war doch im Ganzen sehr unschädlich und bescheiden im Vergleich
zu dem "vernünftigen" Christenthum, welches in den dreißiger Jahren von den
philosophischen und theologischen Kathedern vorgetragen wurde. Das Glaubens-
bekenntniß des Rationalismus, wenn man von einigen Redensarten absah,
ließ sich zur Noth auf ein paar Seiten zusammenfassen; die "wissenschaftliche"
Theologie der neuen Zeit umfaßte ganze Bände, und war nicht abgeneigt,
neben der augsburgschen Confession auch den Heidelberger Katechismus und
allenfalls die Beschlüsse des tndentincr Concils als "aufgehobene Momente"
in sich aufzunehmen. Schelling und namentlich Hegel haben zwar das Meiste
darin geleistet, aber der Tonangeber war doch Fichte, der zuerst von dem
Grundsatz ausging, die Logik sollte nicht blos ein Kanon, sondern ein Orga-
non sein, d. h. sie solle nicht blos die empirischen Studien einerseits, das
Rechtsgefühl andrerseits beaufsichtigen, ihnen die Grenze stecken u. s. w., son¬
dern sie solle sie ersetzen. Diese Idee, die zwar in dieser harten Konsequenz
niemals ausgesprochen wurde, wucherte zuerst in den sogenannten genialen
Kreisen, dann wurde sie auf die Katheder verpflanzt und durchdrang in immer
weitern Kreisen die gebildete Jugend. An Opposition fehlte es nicht: die
empirische Wissenschaft, auch die Theologie knirschte mit den Zähnen, wenn man
ihnen die Worte im Munde verdrehte; aber immer weiter wurde der Kreis
der Eingeweihten, immer stärker auch bei den draußen Stehenden die heim-


gewissen Grad kann sich also jeder von seinem subjectiven Standpunkt aus
darüber Rechenschaft geben.

Für uns sind das wichtigste bei jenem Buch nicht die theologischen Strei¬
tigkeiten, die sich daran knüpften, obgleich diese sehr viel dazu beitrugen, das
Aufsetzn und also die Wirkung zu steigern, auch nicht was es in streng
wissenschaftlicher Beziehung geleistet hat. Das Leben Jesu von Strauß bil¬
det den Markstein zweier scharf von einander getrennten Epochen der deutschen
Literatur, von denen wir die zweite noch nicht übersehn können, weil wir
mitten darin stehn und arbeiten, deren Prineip wir aber als einen ganz
entschiedenen Gegensatz gegen die frühere empfinden, die mit Fichte's Wissen¬
schaftslehre beginnt.

Bekanntlich war Lessings Polemik, ehe er die Fragmente herausgab, mehr
gegen die liberale als gegen die orthodoxe Theologie gerichtet. „Mit der Or¬
thodoxie war man, Gott sei Dank! ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr
und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welche eine jede ihren
Weg fortgehn konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was thut man nun?
man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns
zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen."

Was hätte Lessing gesagt, wenn er in unsern Zeiten gelebt hätte! Denn
der alte Rationalismus, der hier gemeint ist, der Abklatsch der Wolf'schen
Philosophie, war doch im Ganzen sehr unschädlich und bescheiden im Vergleich
zu dem „vernünftigen" Christenthum, welches in den dreißiger Jahren von den
philosophischen und theologischen Kathedern vorgetragen wurde. Das Glaubens-
bekenntniß des Rationalismus, wenn man von einigen Redensarten absah,
ließ sich zur Noth auf ein paar Seiten zusammenfassen; die „wissenschaftliche"
Theologie der neuen Zeit umfaßte ganze Bände, und war nicht abgeneigt,
neben der augsburgschen Confession auch den Heidelberger Katechismus und
allenfalls die Beschlüsse des tndentincr Concils als „aufgehobene Momente"
in sich aufzunehmen. Schelling und namentlich Hegel haben zwar das Meiste
darin geleistet, aber der Tonangeber war doch Fichte, der zuerst von dem
Grundsatz ausging, die Logik sollte nicht blos ein Kanon, sondern ein Orga-
non sein, d. h. sie solle nicht blos die empirischen Studien einerseits, das
Rechtsgefühl andrerseits beaufsichtigen, ihnen die Grenze stecken u. s. w., son¬
dern sie solle sie ersetzen. Diese Idee, die zwar in dieser harten Konsequenz
niemals ausgesprochen wurde, wucherte zuerst in den sogenannten genialen
Kreisen, dann wurde sie auf die Katheder verpflanzt und durchdrang in immer
weitern Kreisen die gebildete Jugend. An Opposition fehlte es nicht: die
empirische Wissenschaft, auch die Theologie knirschte mit den Zähnen, wenn man
ihnen die Worte im Munde verdrehte; aber immer weiter wurde der Kreis
der Eingeweihten, immer stärker auch bei den draußen Stehenden die heim-


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[0360] gewissen Grad kann sich also jeder von seinem subjectiven Standpunkt aus darüber Rechenschaft geben. Für uns sind das wichtigste bei jenem Buch nicht die theologischen Strei¬ tigkeiten, die sich daran knüpften, obgleich diese sehr viel dazu beitrugen, das Aufsetzn und also die Wirkung zu steigern, auch nicht was es in streng wissenschaftlicher Beziehung geleistet hat. Das Leben Jesu von Strauß bil¬ det den Markstein zweier scharf von einander getrennten Epochen der deutschen Literatur, von denen wir die zweite noch nicht übersehn können, weil wir mitten darin stehn und arbeiten, deren Prineip wir aber als einen ganz entschiedenen Gegensatz gegen die frühere empfinden, die mit Fichte's Wissen¬ schaftslehre beginnt. Bekanntlich war Lessings Polemik, ehe er die Fragmente herausgab, mehr gegen die liberale als gegen die orthodoxe Theologie gerichtet. „Mit der Or¬ thodoxie war man, Gott sei Dank! ziemlich zu Rande; man hatte zwischen ihr und der Philosophie eine Scheidewand gezogen, hinter welche eine jede ihren Weg fortgehn konnte, ohne die andere zu hindern. Aber was thut man nun? man reißt diese Scheidewand nieder und macht uns unter dem Vorwande, uns zu vernünftigen Christen zu machen, zu höchst unvernünftigen Philosophen." Was hätte Lessing gesagt, wenn er in unsern Zeiten gelebt hätte! Denn der alte Rationalismus, der hier gemeint ist, der Abklatsch der Wolf'schen Philosophie, war doch im Ganzen sehr unschädlich und bescheiden im Vergleich zu dem „vernünftigen" Christenthum, welches in den dreißiger Jahren von den philosophischen und theologischen Kathedern vorgetragen wurde. Das Glaubens- bekenntniß des Rationalismus, wenn man von einigen Redensarten absah, ließ sich zur Noth auf ein paar Seiten zusammenfassen; die „wissenschaftliche" Theologie der neuen Zeit umfaßte ganze Bände, und war nicht abgeneigt, neben der augsburgschen Confession auch den Heidelberger Katechismus und allenfalls die Beschlüsse des tndentincr Concils als „aufgehobene Momente" in sich aufzunehmen. Schelling und namentlich Hegel haben zwar das Meiste darin geleistet, aber der Tonangeber war doch Fichte, der zuerst von dem Grundsatz ausging, die Logik sollte nicht blos ein Kanon, sondern ein Orga- non sein, d. h. sie solle nicht blos die empirischen Studien einerseits, das Rechtsgefühl andrerseits beaufsichtigen, ihnen die Grenze stecken u. s. w., son¬ dern sie solle sie ersetzen. Diese Idee, die zwar in dieser harten Konsequenz niemals ausgesprochen wurde, wucherte zuerst in den sogenannten genialen Kreisen, dann wurde sie auf die Katheder verpflanzt und durchdrang in immer weitern Kreisen die gebildete Jugend. An Opposition fehlte es nicht: die empirische Wissenschaft, auch die Theologie knirschte mit den Zähnen, wenn man ihnen die Worte im Munde verdrehte; aber immer weiter wurde der Kreis der Eingeweihten, immer stärker auch bei den draußen Stehenden die heim-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/360>, abgerufen am 25.07.2024.