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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band.

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Haus gesetzt, wobei es natürlich nickt an Spottreden und Gelächter in der
Nachbarschaft fehlt.

Interessanter und poetischer sind die ländlichen Feste, die sich in einzelnen
einsamen Bergweilern am Niederrhein, besonders im Bergischen und Siegcn-
schen erhalten haben, die sogenannten "Schwingtage", an denen die Bäuer¬
innen des Ortes sich gemeinsam der Reinigung und Zubereitung des Flachses
unterziehen. Nachdem die Stengel durch abwechselndes Einweichen und Trock¬
nen mürbe gemacht worden, in der letzten Hälfte des October, finden sich hier
die Frauen und Mädchen des Dorfes in einem der größeren Höfe desselben
zur gemeinschaftlichen Arbeit zusammen. Zuerst werden die mürben Kraut¬
stengel auf einer sehr einfachen Maschine, der Breche oder dem Flachsäuel, in
welcher zwei in eincmdergreiseude gezähnte Holzscheeren sie fassen und zer¬
malmen, bis auf den zähen Bast gänzlich zerrieben. Dann wird dieser Bast
bündelweise in dem Einschnitt eines aufrechtstehenden Breies, des sogenannten
Schwingstockcs, vermittelst der Schwinge, einem dünnen fächerartigen Schlägel,
von den daran noch festsitzenden Stengelbröckelchen, dem Schiff, gereinigt und
durch anhaltendes Klopfen in die einzelnen Fasern zertheilt. Zwanzig, ja
doppelt so viele Frauen, je nachdem das Gehöft oder der Flachsvorrath be¬
deutend ist, versammeln sich zu dieser Verrichtung unter freiem Himmel oder
in der Scheune. Jede führt außer ihrem Schwinggcräth einen Schatz alter
Lieder mit sich, und wenn die Arbeit einmal im Gange ist. schallen zu dem
taktmäßigen Geklapper der Schwingen Jauchzen und Gesänge vom Morgen
bis zur Mitternacht. In einzelnen Pansen werden eigenthümliche Gerichte
und Getränke gereicht, dann auch allerlei alte Spiele gespielt, dann geht es
von Neuem an die Arbeit um die Wette -- nichts nach Zufall oder Belieben,
alles nach dem Herkommen und bestimmtem Ritus, als wenn es, wie einst,
in gewissem Sinne einer heiligen Handlung gälte. Die Vorsängerin, gewöhn¬
lich ein graues Mütterchen, beginnt das jeweilige Lied, das entweder vom
ganzen weiblichen Chor aufgenommen oder in der Art eines Rundgesanges
von Mund zu Mund getragen wird, bis Alle in den Refrain einfallen. Zwi¬
schen den stehenden alten Liedern tauchen auch neue auf, doch nur nebenher,
als Füllwerk. Die eigentlichen Schwingtagsgesänge tragen alle den Charakter
einer fernen naiven Zeit, sie werden fast nur bei dieser Gelegenheit, selten an¬
derswo gesungen. Die Tonart ist Moll, die Weise meist rasch bewegt, der
Inhalt bezieht sich entweder auf den Flachsbau, oder auf das Spinnen, oder
ist, und zwar häufiger, erotischer Natur. Bisweilen sind es auch Trinklieder,
mitunter Neckereien, oft Balladen von entführten Königstöchtern, tapfern Rit¬
tern und Grafen, Jägersleuten, Müllerinnen und andern Lieblingsfiguren der
Volkspoesie. Manche der Lieder mögen mehre hundert Jahre alt sein, wenn


Haus gesetzt, wobei es natürlich nickt an Spottreden und Gelächter in der
Nachbarschaft fehlt.

Interessanter und poetischer sind die ländlichen Feste, die sich in einzelnen
einsamen Bergweilern am Niederrhein, besonders im Bergischen und Siegcn-
schen erhalten haben, die sogenannten „Schwingtage", an denen die Bäuer¬
innen des Ortes sich gemeinsam der Reinigung und Zubereitung des Flachses
unterziehen. Nachdem die Stengel durch abwechselndes Einweichen und Trock¬
nen mürbe gemacht worden, in der letzten Hälfte des October, finden sich hier
die Frauen und Mädchen des Dorfes in einem der größeren Höfe desselben
zur gemeinschaftlichen Arbeit zusammen. Zuerst werden die mürben Kraut¬
stengel auf einer sehr einfachen Maschine, der Breche oder dem Flachsäuel, in
welcher zwei in eincmdergreiseude gezähnte Holzscheeren sie fassen und zer¬
malmen, bis auf den zähen Bast gänzlich zerrieben. Dann wird dieser Bast
bündelweise in dem Einschnitt eines aufrechtstehenden Breies, des sogenannten
Schwingstockcs, vermittelst der Schwinge, einem dünnen fächerartigen Schlägel,
von den daran noch festsitzenden Stengelbröckelchen, dem Schiff, gereinigt und
durch anhaltendes Klopfen in die einzelnen Fasern zertheilt. Zwanzig, ja
doppelt so viele Frauen, je nachdem das Gehöft oder der Flachsvorrath be¬
deutend ist, versammeln sich zu dieser Verrichtung unter freiem Himmel oder
in der Scheune. Jede führt außer ihrem Schwinggcräth einen Schatz alter
Lieder mit sich, und wenn die Arbeit einmal im Gange ist. schallen zu dem
taktmäßigen Geklapper der Schwingen Jauchzen und Gesänge vom Morgen
bis zur Mitternacht. In einzelnen Pansen werden eigenthümliche Gerichte
und Getränke gereicht, dann auch allerlei alte Spiele gespielt, dann geht es
von Neuem an die Arbeit um die Wette — nichts nach Zufall oder Belieben,
alles nach dem Herkommen und bestimmtem Ritus, als wenn es, wie einst,
in gewissem Sinne einer heiligen Handlung gälte. Die Vorsängerin, gewöhn¬
lich ein graues Mütterchen, beginnt das jeweilige Lied, das entweder vom
ganzen weiblichen Chor aufgenommen oder in der Art eines Rundgesanges
von Mund zu Mund getragen wird, bis Alle in den Refrain einfallen. Zwi¬
schen den stehenden alten Liedern tauchen auch neue auf, doch nur nebenher,
als Füllwerk. Die eigentlichen Schwingtagsgesänge tragen alle den Charakter
einer fernen naiven Zeit, sie werden fast nur bei dieser Gelegenheit, selten an¬
derswo gesungen. Die Tonart ist Moll, die Weise meist rasch bewegt, der
Inhalt bezieht sich entweder auf den Flachsbau, oder auf das Spinnen, oder
ist, und zwar häufiger, erotischer Natur. Bisweilen sind es auch Trinklieder,
mitunter Neckereien, oft Balladen von entführten Königstöchtern, tapfern Rit¬
tern und Grafen, Jägersleuten, Müllerinnen und andern Lieblingsfiguren der
Volkspoesie. Manche der Lieder mögen mehre hundert Jahre alt sein, wenn


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[0322] Haus gesetzt, wobei es natürlich nickt an Spottreden und Gelächter in der Nachbarschaft fehlt. Interessanter und poetischer sind die ländlichen Feste, die sich in einzelnen einsamen Bergweilern am Niederrhein, besonders im Bergischen und Siegcn- schen erhalten haben, die sogenannten „Schwingtage", an denen die Bäuer¬ innen des Ortes sich gemeinsam der Reinigung und Zubereitung des Flachses unterziehen. Nachdem die Stengel durch abwechselndes Einweichen und Trock¬ nen mürbe gemacht worden, in der letzten Hälfte des October, finden sich hier die Frauen und Mädchen des Dorfes in einem der größeren Höfe desselben zur gemeinschaftlichen Arbeit zusammen. Zuerst werden die mürben Kraut¬ stengel auf einer sehr einfachen Maschine, der Breche oder dem Flachsäuel, in welcher zwei in eincmdergreiseude gezähnte Holzscheeren sie fassen und zer¬ malmen, bis auf den zähen Bast gänzlich zerrieben. Dann wird dieser Bast bündelweise in dem Einschnitt eines aufrechtstehenden Breies, des sogenannten Schwingstockcs, vermittelst der Schwinge, einem dünnen fächerartigen Schlägel, von den daran noch festsitzenden Stengelbröckelchen, dem Schiff, gereinigt und durch anhaltendes Klopfen in die einzelnen Fasern zertheilt. Zwanzig, ja doppelt so viele Frauen, je nachdem das Gehöft oder der Flachsvorrath be¬ deutend ist, versammeln sich zu dieser Verrichtung unter freiem Himmel oder in der Scheune. Jede führt außer ihrem Schwinggcräth einen Schatz alter Lieder mit sich, und wenn die Arbeit einmal im Gange ist. schallen zu dem taktmäßigen Geklapper der Schwingen Jauchzen und Gesänge vom Morgen bis zur Mitternacht. In einzelnen Pansen werden eigenthümliche Gerichte und Getränke gereicht, dann auch allerlei alte Spiele gespielt, dann geht es von Neuem an die Arbeit um die Wette — nichts nach Zufall oder Belieben, alles nach dem Herkommen und bestimmtem Ritus, als wenn es, wie einst, in gewissem Sinne einer heiligen Handlung gälte. Die Vorsängerin, gewöhn¬ lich ein graues Mütterchen, beginnt das jeweilige Lied, das entweder vom ganzen weiblichen Chor aufgenommen oder in der Art eines Rundgesanges von Mund zu Mund getragen wird, bis Alle in den Refrain einfallen. Zwi¬ schen den stehenden alten Liedern tauchen auch neue auf, doch nur nebenher, als Füllwerk. Die eigentlichen Schwingtagsgesänge tragen alle den Charakter einer fernen naiven Zeit, sie werden fast nur bei dieser Gelegenheit, selten an¬ derswo gesungen. Die Tonart ist Moll, die Weise meist rasch bewegt, der Inhalt bezieht sich entweder auf den Flachsbau, oder auf das Spinnen, oder ist, und zwar häufiger, erotischer Natur. Bisweilen sind es auch Trinklieder, mitunter Neckereien, oft Balladen von entführten Königstöchtern, tapfern Rit¬ tern und Grafen, Jägersleuten, Müllerinnen und andern Lieblingsfiguren der Volkspoesie. Manche der Lieder mögen mehre hundert Jahre alt sein, wenn

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_109805/322>, abgerufen am 04.07.2024.