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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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then, nicht genau bestimmen. Möglich, daß die Urzeit eine nachtheilige Ein¬
wirkung des Mondes auf die Gesundheit der Menschen und auf die Erden¬
natur überhaupt wahrzunehmen meinte. Möglich, daß die Mythe vom Raube
der wasserholenden Kinder ein Symbol des Einflusses des Mondes auf das
Meer, oder eine Folgerung daraus ist, so daß man geglaubt hätte, wie der
Mond die Flut hebt, könne er auch Menschen der Erde entheben. Vielleicht
auch, daß dazu ein ähnliches Gefühl trat, wie das. welches den Jsraeliten
untersagte, am siebenten Tage zu arbeiten. Wie hier die Arbeit auf sechs
Tage der Woche beschränkt wurde, so könnte unter den Germanen die Billig¬
keit verboten haben, anders als bei Sonnenlicht thätig zu sein, und dieses
Gefühl, anfänglich eine bloße Scheu, später zum Verbot und noch später zu
einem Glied in der Mythe geworden sein.

Eigenthümlich und vielleicht nur eine Christianisirung der im Obigen
angeführten ältesten Eddamythe, nach welcher Sonne und Mond Riescnkinder
sind, die im Anfang der Dinge um ihren Platz gestellt wurden, ist die von
Maurer mitgetheilte Sage aus Island, daß die Sonne das Gesicht Evas, der
Mond das Antlitz Adams zeige. Dagegen erinnert eine andere dort im Volks¬
mund lebende Erzählung lebhaft an einen bekannten Zug in den Sagen vom
wilden Jäger. Ein Dieb war eben dabei, an einem einsamen Orte die Lende
eines von ihm gestohlnen Schafes zu verspeisen. Der Mond schien gerade
hell und klar vom Himmel herab. Da rief der Bursch übermüthig zu ihm
hinauf: "Willst du, Mond, rü deinen Mund diesen fetten Bissen?" Sofort
antwortete eine Stimme: "Willst du, Dieb, auf deine Wange diesen heißen
Schlüssel?" und zugleich siel vom Himmel wirtlich ein glühender Schlüssel
herab und brannte dem Spötter ein Brandmal auf den Backen.

Die Götter der Urzeit bilden sich aus unbestimmten Empfindungen und
Wahrnehmungen, gewinnen für einige Zeit plastische Gestalt und sterben dann
in derselben Weise wie alles andere, d. h. sie lösen sich in das auf, aus dem
sie entstanden sind, nur daß dann jene Elemente, jene Empfindungen und
Wahrnehmungen in der Volksseele in bestimmterer Fassung, als Dogmen fort¬
leben. Die ethischen Götter sind aus unserm Aberglauben verschwunden bis
auf geringe Neste. Dagegen bewahrt derselbe zahlreiche Erinnerungen an die
flüssige, vielfach verschwimmende Welt der dieser vorausgehenden Naturreligion,
und das ist begreiflich, da jene nur eine vergängliche Bildungsstufe der Volks¬
seele abspiegeln, während die Natur für den Naturmenschen immer dieselbe ist.
Die aus der unklaren Empfindung, daß der Mond einen Einfluß auf Mensch
und Welt ausübe, hervorgegangene Mythe vom Mondmann oder Mondgott,
der Menschen entführt, welche sich seinem Schein aussetzen, in demselben Ar¬
beiten verrichten, wird sich, als der Gott am Christenthum starb, wieder in
die Vorstellung von einer schädlichen Einwirkung des Mondes auf die Erde


then, nicht genau bestimmen. Möglich, daß die Urzeit eine nachtheilige Ein¬
wirkung des Mondes auf die Gesundheit der Menschen und auf die Erden¬
natur überhaupt wahrzunehmen meinte. Möglich, daß die Mythe vom Raube
der wasserholenden Kinder ein Symbol des Einflusses des Mondes auf das
Meer, oder eine Folgerung daraus ist, so daß man geglaubt hätte, wie der
Mond die Flut hebt, könne er auch Menschen der Erde entheben. Vielleicht
auch, daß dazu ein ähnliches Gefühl trat, wie das. welches den Jsraeliten
untersagte, am siebenten Tage zu arbeiten. Wie hier die Arbeit auf sechs
Tage der Woche beschränkt wurde, so könnte unter den Germanen die Billig¬
keit verboten haben, anders als bei Sonnenlicht thätig zu sein, und dieses
Gefühl, anfänglich eine bloße Scheu, später zum Verbot und noch später zu
einem Glied in der Mythe geworden sein.

Eigenthümlich und vielleicht nur eine Christianisirung der im Obigen
angeführten ältesten Eddamythe, nach welcher Sonne und Mond Riescnkinder
sind, die im Anfang der Dinge um ihren Platz gestellt wurden, ist die von
Maurer mitgetheilte Sage aus Island, daß die Sonne das Gesicht Evas, der
Mond das Antlitz Adams zeige. Dagegen erinnert eine andere dort im Volks¬
mund lebende Erzählung lebhaft an einen bekannten Zug in den Sagen vom
wilden Jäger. Ein Dieb war eben dabei, an einem einsamen Orte die Lende
eines von ihm gestohlnen Schafes zu verspeisen. Der Mond schien gerade
hell und klar vom Himmel herab. Da rief der Bursch übermüthig zu ihm
hinauf: „Willst du, Mond, rü deinen Mund diesen fetten Bissen?" Sofort
antwortete eine Stimme: „Willst du, Dieb, auf deine Wange diesen heißen
Schlüssel?" und zugleich siel vom Himmel wirtlich ein glühender Schlüssel
herab und brannte dem Spötter ein Brandmal auf den Backen.

Die Götter der Urzeit bilden sich aus unbestimmten Empfindungen und
Wahrnehmungen, gewinnen für einige Zeit plastische Gestalt und sterben dann
in derselben Weise wie alles andere, d. h. sie lösen sich in das auf, aus dem
sie entstanden sind, nur daß dann jene Elemente, jene Empfindungen und
Wahrnehmungen in der Volksseele in bestimmterer Fassung, als Dogmen fort¬
leben. Die ethischen Götter sind aus unserm Aberglauben verschwunden bis
auf geringe Neste. Dagegen bewahrt derselbe zahlreiche Erinnerungen an die
flüssige, vielfach verschwimmende Welt der dieser vorausgehenden Naturreligion,
und das ist begreiflich, da jene nur eine vergängliche Bildungsstufe der Volks¬
seele abspiegeln, während die Natur für den Naturmenschen immer dieselbe ist.
Die aus der unklaren Empfindung, daß der Mond einen Einfluß auf Mensch
und Welt ausübe, hervorgegangene Mythe vom Mondmann oder Mondgott,
der Menschen entführt, welche sich seinem Schein aussetzen, in demselben Ar¬
beiten verrichten, wird sich, als der Gott am Christenthum starb, wieder in
die Vorstellung von einer schädlichen Einwirkung des Mondes auf die Erde


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/508>, abgerufen am 23.07.2024.