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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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die Abendwolken gehen, fragt, warum der Thränen unterm Mond so viel
sind. Der Aberglaube des Volkes ist naiv, aufs Praktische gerichtet. Er sieht
im Mond seinen Doctor für Zahnschmerzen und Kröpfe und fragt sich, ob es
geratbner ist, bei zunehmendem oder abnehmendem Monde seine Erbsen zu sum.

Ueber das eigentliche Wesen des Mondes lauten die Sagen verschieden.
Bald klingt die alte Zeit nach, die ihn als belebtes Wesen auffaßte, bald ist
er ein bloßer Ort am Himmel, wohin Uebelthäter verbannt sind. Aehnlichen
Auffassungen begegnen wir in den Gebräuchen, die sich auf seinen wahren
oder vermeintlichen Einfluß auf das Temperament und die Gesundheit der
Menschen, auf das Gedeihen der Feldfrüchte und andere Vorgänge und Zu¬
stände des Lebens beziehen, doch spielen hier bereits orientalische Gedanken,
durch Römer, Kreuzfahrer und mittelalterliche Juden vermittelt, in den ger¬
manischen Jdeenkreis herein. Jene beiden Vorstellungen finden sich schon in
der Edda angedeutet obwol die, nach welcher der Mond ein belebtes, gött¬
liches oder halbgöttlichcs Wesen ist, hier noch entschieden vorwiegt. Die äl¬
teste Gestalt der Mythe läßt Wodan als Weltorduer die Riesentochter Nacht
und deren Sohn Tag zu sich berufen und ihn jedem von beiden ein Roß und
einen Wagen geben, damit sie in je vierundzwanzig Stunden einmal um die
Erde fahren. Nacht hat den Vortritt, ihr Roß (der Mond) heißt Reifmähne,
das knirscht in sein Gebiß und wirft den Schaum über die Erde, wovon der
Thau herkommt. Nach ihr kommt Tag, dessen Roß heißt Scheinmähnc, es
hat leuchtende Haare (die Sonnenstrahlen), von denen Luft und Erde ganz
erhellt werden. Später, als die reine Naturreligion sich mit ethischen Mo¬
menten erfüllte, nahm diese Mythe eine andere Form an. Es heißt hier:
Es war ein Mann, Namens Mundelför (Scheibenschwinger) der hatte zwei
Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und da sie so hold waren und so
schön leuchteten, nannte er den Sohn Mond und die Tochter Sonne; diese
aber vermählte er einem Manne, der Glanz hieß. Die Götter jedoch wurden
zornig über den Stolz Mundelförs, nahmen ihm seine beiden Kinder und
setzten sie an den Himmel, um den Gang von Sonne und Mond zu leiten.
Sonne mußte die Hengste führen, die vor den Sonnenwagen gespannt sind,
und Frühwach und Allgeschwind heißen. Unter ihren Bugen sind Blasebälge,
um sie abzukühlen; denn der Sonnenwagen ist aus Femrfunken gemacht, die
aus Muspelheim herüberflogen, und ist ganz glühend. Vor ihn ist auch ein
Schild gesetzt, um die Hitze aufzufangen; wenn der heruntersiele, würden Was¬
ser und Erde entbrennen. Mond wurde bestimmt, den Gang des Mondes z"
leiten und über Neulicht und Volllicht zu herrschen. Noch späteren Ursprungs
und wol nur eine Wiederholung oder vielmehr eine anderswo entstandene'
Gestalt derselben Mythe, die sich dann an diese anhing, ist die Erzählung,
nach welcher Mond, als er einmal auf die Erde herabgesehen und Widfinns


die Abendwolken gehen, fragt, warum der Thränen unterm Mond so viel
sind. Der Aberglaube des Volkes ist naiv, aufs Praktische gerichtet. Er sieht
im Mond seinen Doctor für Zahnschmerzen und Kröpfe und fragt sich, ob es
geratbner ist, bei zunehmendem oder abnehmendem Monde seine Erbsen zu sum.

Ueber das eigentliche Wesen des Mondes lauten die Sagen verschieden.
Bald klingt die alte Zeit nach, die ihn als belebtes Wesen auffaßte, bald ist
er ein bloßer Ort am Himmel, wohin Uebelthäter verbannt sind. Aehnlichen
Auffassungen begegnen wir in den Gebräuchen, die sich auf seinen wahren
oder vermeintlichen Einfluß auf das Temperament und die Gesundheit der
Menschen, auf das Gedeihen der Feldfrüchte und andere Vorgänge und Zu¬
stände des Lebens beziehen, doch spielen hier bereits orientalische Gedanken,
durch Römer, Kreuzfahrer und mittelalterliche Juden vermittelt, in den ger¬
manischen Jdeenkreis herein. Jene beiden Vorstellungen finden sich schon in
der Edda angedeutet obwol die, nach welcher der Mond ein belebtes, gött¬
liches oder halbgöttlichcs Wesen ist, hier noch entschieden vorwiegt. Die äl¬
teste Gestalt der Mythe läßt Wodan als Weltorduer die Riesentochter Nacht
und deren Sohn Tag zu sich berufen und ihn jedem von beiden ein Roß und
einen Wagen geben, damit sie in je vierundzwanzig Stunden einmal um die
Erde fahren. Nacht hat den Vortritt, ihr Roß (der Mond) heißt Reifmähne,
das knirscht in sein Gebiß und wirft den Schaum über die Erde, wovon der
Thau herkommt. Nach ihr kommt Tag, dessen Roß heißt Scheinmähnc, es
hat leuchtende Haare (die Sonnenstrahlen), von denen Luft und Erde ganz
erhellt werden. Später, als die reine Naturreligion sich mit ethischen Mo¬
menten erfüllte, nahm diese Mythe eine andere Form an. Es heißt hier:
Es war ein Mann, Namens Mundelför (Scheibenschwinger) der hatte zwei
Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und da sie so hold waren und so
schön leuchteten, nannte er den Sohn Mond und die Tochter Sonne; diese
aber vermählte er einem Manne, der Glanz hieß. Die Götter jedoch wurden
zornig über den Stolz Mundelförs, nahmen ihm seine beiden Kinder und
setzten sie an den Himmel, um den Gang von Sonne und Mond zu leiten.
Sonne mußte die Hengste führen, die vor den Sonnenwagen gespannt sind,
und Frühwach und Allgeschwind heißen. Unter ihren Bugen sind Blasebälge,
um sie abzukühlen; denn der Sonnenwagen ist aus Femrfunken gemacht, die
aus Muspelheim herüberflogen, und ist ganz glühend. Vor ihn ist auch ein
Schild gesetzt, um die Hitze aufzufangen; wenn der heruntersiele, würden Was¬
ser und Erde entbrennen. Mond wurde bestimmt, den Gang des Mondes z»
leiten und über Neulicht und Volllicht zu herrschen. Noch späteren Ursprungs
und wol nur eine Wiederholung oder vielmehr eine anderswo entstandene'
Gestalt derselben Mythe, die sich dann an diese anhing, ist die Erzählung,
nach welcher Mond, als er einmal auf die Erde herabgesehen und Widfinns


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[0504] die Abendwolken gehen, fragt, warum der Thränen unterm Mond so viel sind. Der Aberglaube des Volkes ist naiv, aufs Praktische gerichtet. Er sieht im Mond seinen Doctor für Zahnschmerzen und Kröpfe und fragt sich, ob es geratbner ist, bei zunehmendem oder abnehmendem Monde seine Erbsen zu sum. Ueber das eigentliche Wesen des Mondes lauten die Sagen verschieden. Bald klingt die alte Zeit nach, die ihn als belebtes Wesen auffaßte, bald ist er ein bloßer Ort am Himmel, wohin Uebelthäter verbannt sind. Aehnlichen Auffassungen begegnen wir in den Gebräuchen, die sich auf seinen wahren oder vermeintlichen Einfluß auf das Temperament und die Gesundheit der Menschen, auf das Gedeihen der Feldfrüchte und andere Vorgänge und Zu¬ stände des Lebens beziehen, doch spielen hier bereits orientalische Gedanken, durch Römer, Kreuzfahrer und mittelalterliche Juden vermittelt, in den ger¬ manischen Jdeenkreis herein. Jene beiden Vorstellungen finden sich schon in der Edda angedeutet obwol die, nach welcher der Mond ein belebtes, gött¬ liches oder halbgöttlichcs Wesen ist, hier noch entschieden vorwiegt. Die äl¬ teste Gestalt der Mythe läßt Wodan als Weltorduer die Riesentochter Nacht und deren Sohn Tag zu sich berufen und ihn jedem von beiden ein Roß und einen Wagen geben, damit sie in je vierundzwanzig Stunden einmal um die Erde fahren. Nacht hat den Vortritt, ihr Roß (der Mond) heißt Reifmähne, das knirscht in sein Gebiß und wirft den Schaum über die Erde, wovon der Thau herkommt. Nach ihr kommt Tag, dessen Roß heißt Scheinmähnc, es hat leuchtende Haare (die Sonnenstrahlen), von denen Luft und Erde ganz erhellt werden. Später, als die reine Naturreligion sich mit ethischen Mo¬ menten erfüllte, nahm diese Mythe eine andere Form an. Es heißt hier: Es war ein Mann, Namens Mundelför (Scheibenschwinger) der hatte zwei Kinder, einen Sohn und eine Tochter, und da sie so hold waren und so schön leuchteten, nannte er den Sohn Mond und die Tochter Sonne; diese aber vermählte er einem Manne, der Glanz hieß. Die Götter jedoch wurden zornig über den Stolz Mundelförs, nahmen ihm seine beiden Kinder und setzten sie an den Himmel, um den Gang von Sonne und Mond zu leiten. Sonne mußte die Hengste führen, die vor den Sonnenwagen gespannt sind, und Frühwach und Allgeschwind heißen. Unter ihren Bugen sind Blasebälge, um sie abzukühlen; denn der Sonnenwagen ist aus Femrfunken gemacht, die aus Muspelheim herüberflogen, und ist ganz glühend. Vor ihn ist auch ein Schild gesetzt, um die Hitze aufzufangen; wenn der heruntersiele, würden Was¬ ser und Erde entbrennen. Mond wurde bestimmt, den Gang des Mondes z» leiten und über Neulicht und Volllicht zu herrschen. Noch späteren Ursprungs und wol nur eine Wiederholung oder vielmehr eine anderswo entstandene' Gestalt derselben Mythe, die sich dann an diese anhing, ist die Erzählung, nach welcher Mond, als er einmal auf die Erde herabgesehen und Widfinns

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/504>, abgerufen am 23.07.2024.