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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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den Strom gestürzt, aus ewig verloren gewesen -- allein trotz dem Ansatz
von Hebebäumen, trotz der übermenschlichen Anstrengung der Leute und dem
stets willigen Anziehen der Ochsen vermehrte sich die Gefahr mit jedem Augen¬
blick. Der Wagen hatte sich auf die linke Seite geneigt, ein Hmterrad
schwebte schon halb in der Luft, der Druck des großen Gewichts senkte zu¬
gleich die Brücke so tief unter das Niveau des Stromes, daß das Wasser
über die Leitcrbäume fluthete und die Thiere bis zum Bauche darin standen.
Gleichzeitig erhob sich noch ein heftiger Wind, unsere Lage war eine entsetz¬
liche. Inzwischen waren Boten nach der Stadt geeilt und es kam der In¬
genieur der Brücke mit 60 Mann zu Hülfe. Allein auch diese vermochten
nichts auszurichten. Trotzdem die Leute wie Besessene schrieen und bis zum
Gürtel im Wasser standen, war dem scheinbar Unvermeidlichen nicht zu ent¬
gehen. Glücklicherweise hielt aus dem User hinter uns eine lange Reihe von
Ochsenwagen, wegen der eingetretenen Sperrung der Brücke. Da unsere
eigenen Gespanne schon alle voraus am jenseitigen, viel entfernteren Ufer wa¬
ren, und die offene Schlucht im Strom, worin der Wagen lag, für sie nicht
mehr zu passiren war, so konnten sie uns nichts nützen, denn derselbe war
offenbar nur zu retten, wenn er verkehrt, von hinten angepackt und heraus¬
gezogen werden konnte. Der Gutsbesitzer eilte zurück und requirirte 18 Paar
Ochsen halb mit Gewalt, trotz des Widerstrebens ihrer Führer, die sich jedoch
als Leibeigene dem Machtgebot des Edelmanns nicht zu entziehen wagten.
Ein ungeheures Tau ward aus dem Arsenal herbeigeschafft, um den, Hinter¬
wagen festgeschlungen und an dasselbe die 36 Ochsen gehängt. Endlich war
Alles fertig. Ein paarmal zogen die guten Thiere vergeblich an, zuletzt aber
unter furchtbarem Geschrei rissen sie mit gewaltigem Ruck glücklich die Last
aus ihrer verhängnisvollen Gruft. Die Brücke wurde darauf eiligst wieder¬
hergestellt und aus Zureden des Ingenieurs der Uebergang zum zweitenmal
versucht. Jetzt waren 12 Paar Ochsen angelegt, neben jedem Thier ein Mann
zum Anfeuern, denn im Gallopp mußte es über die schwimmende Straße ge¬
hen, damit die Last gar nicht Zeit gewänne, auf einen Punkt besonders zu
drücken. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln brachen wir noch dreimal ein, aber
nicht wieder so gefährlich wie das erste Mal und jedesmal rissen die Gespanne
den Wagen glücklich heraus. Die Geschichte spielte ununterbrochen von Bor¬
mittags 9 bis Abends 7 Uhr; die Flüche, die an diesem Tag auf uns herab¬
regneten, kann man sich denken, denn auf jeder Stromseite hielten die ganze
lange Zeit hindurch Hunderte von Wagen, welchen durch unsern Unfall die
Passage versperrt war.

Wenn man über die Brücke kommt, so befindet sich rechts der Stadt¬
garten, eine schattige Anlage, deren Werth man in diesem Lande des glühen¬
den Sonnenbrandes recht würdigen lernt und gern den Maaßstaab Heimath-


den Strom gestürzt, aus ewig verloren gewesen — allein trotz dem Ansatz
von Hebebäumen, trotz der übermenschlichen Anstrengung der Leute und dem
stets willigen Anziehen der Ochsen vermehrte sich die Gefahr mit jedem Augen¬
blick. Der Wagen hatte sich auf die linke Seite geneigt, ein Hmterrad
schwebte schon halb in der Luft, der Druck des großen Gewichts senkte zu¬
gleich die Brücke so tief unter das Niveau des Stromes, daß das Wasser
über die Leitcrbäume fluthete und die Thiere bis zum Bauche darin standen.
Gleichzeitig erhob sich noch ein heftiger Wind, unsere Lage war eine entsetz¬
liche. Inzwischen waren Boten nach der Stadt geeilt und es kam der In¬
genieur der Brücke mit 60 Mann zu Hülfe. Allein auch diese vermochten
nichts auszurichten. Trotzdem die Leute wie Besessene schrieen und bis zum
Gürtel im Wasser standen, war dem scheinbar Unvermeidlichen nicht zu ent¬
gehen. Glücklicherweise hielt aus dem User hinter uns eine lange Reihe von
Ochsenwagen, wegen der eingetretenen Sperrung der Brücke. Da unsere
eigenen Gespanne schon alle voraus am jenseitigen, viel entfernteren Ufer wa¬
ren, und die offene Schlucht im Strom, worin der Wagen lag, für sie nicht
mehr zu passiren war, so konnten sie uns nichts nützen, denn derselbe war
offenbar nur zu retten, wenn er verkehrt, von hinten angepackt und heraus¬
gezogen werden konnte. Der Gutsbesitzer eilte zurück und requirirte 18 Paar
Ochsen halb mit Gewalt, trotz des Widerstrebens ihrer Führer, die sich jedoch
als Leibeigene dem Machtgebot des Edelmanns nicht zu entziehen wagten.
Ein ungeheures Tau ward aus dem Arsenal herbeigeschafft, um den, Hinter¬
wagen festgeschlungen und an dasselbe die 36 Ochsen gehängt. Endlich war
Alles fertig. Ein paarmal zogen die guten Thiere vergeblich an, zuletzt aber
unter furchtbarem Geschrei rissen sie mit gewaltigem Ruck glücklich die Last
aus ihrer verhängnisvollen Gruft. Die Brücke wurde darauf eiligst wieder¬
hergestellt und aus Zureden des Ingenieurs der Uebergang zum zweitenmal
versucht. Jetzt waren 12 Paar Ochsen angelegt, neben jedem Thier ein Mann
zum Anfeuern, denn im Gallopp mußte es über die schwimmende Straße ge¬
hen, damit die Last gar nicht Zeit gewänne, auf einen Punkt besonders zu
drücken. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln brachen wir noch dreimal ein, aber
nicht wieder so gefährlich wie das erste Mal und jedesmal rissen die Gespanne
den Wagen glücklich heraus. Die Geschichte spielte ununterbrochen von Bor¬
mittags 9 bis Abends 7 Uhr; die Flüche, die an diesem Tag auf uns herab¬
regneten, kann man sich denken, denn auf jeder Stromseite hielten die ganze
lange Zeit hindurch Hunderte von Wagen, welchen durch unsern Unfall die
Passage versperrt war.

Wenn man über die Brücke kommt, so befindet sich rechts der Stadt¬
garten, eine schattige Anlage, deren Werth man in diesem Lande des glühen¬
den Sonnenbrandes recht würdigen lernt und gern den Maaßstaab Heimath-


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[0476] den Strom gestürzt, aus ewig verloren gewesen — allein trotz dem Ansatz von Hebebäumen, trotz der übermenschlichen Anstrengung der Leute und dem stets willigen Anziehen der Ochsen vermehrte sich die Gefahr mit jedem Augen¬ blick. Der Wagen hatte sich auf die linke Seite geneigt, ein Hmterrad schwebte schon halb in der Luft, der Druck des großen Gewichts senkte zu¬ gleich die Brücke so tief unter das Niveau des Stromes, daß das Wasser über die Leitcrbäume fluthete und die Thiere bis zum Bauche darin standen. Gleichzeitig erhob sich noch ein heftiger Wind, unsere Lage war eine entsetz¬ liche. Inzwischen waren Boten nach der Stadt geeilt und es kam der In¬ genieur der Brücke mit 60 Mann zu Hülfe. Allein auch diese vermochten nichts auszurichten. Trotzdem die Leute wie Besessene schrieen und bis zum Gürtel im Wasser standen, war dem scheinbar Unvermeidlichen nicht zu ent¬ gehen. Glücklicherweise hielt aus dem User hinter uns eine lange Reihe von Ochsenwagen, wegen der eingetretenen Sperrung der Brücke. Da unsere eigenen Gespanne schon alle voraus am jenseitigen, viel entfernteren Ufer wa¬ ren, und die offene Schlucht im Strom, worin der Wagen lag, für sie nicht mehr zu passiren war, so konnten sie uns nichts nützen, denn derselbe war offenbar nur zu retten, wenn er verkehrt, von hinten angepackt und heraus¬ gezogen werden konnte. Der Gutsbesitzer eilte zurück und requirirte 18 Paar Ochsen halb mit Gewalt, trotz des Widerstrebens ihrer Führer, die sich jedoch als Leibeigene dem Machtgebot des Edelmanns nicht zu entziehen wagten. Ein ungeheures Tau ward aus dem Arsenal herbeigeschafft, um den, Hinter¬ wagen festgeschlungen und an dasselbe die 36 Ochsen gehängt. Endlich war Alles fertig. Ein paarmal zogen die guten Thiere vergeblich an, zuletzt aber unter furchtbarem Geschrei rissen sie mit gewaltigem Ruck glücklich die Last aus ihrer verhängnisvollen Gruft. Die Brücke wurde darauf eiligst wieder¬ hergestellt und aus Zureden des Ingenieurs der Uebergang zum zweitenmal versucht. Jetzt waren 12 Paar Ochsen angelegt, neben jedem Thier ein Mann zum Anfeuern, denn im Gallopp mußte es über die schwimmende Straße ge¬ hen, damit die Last gar nicht Zeit gewänne, auf einen Punkt besonders zu drücken. Trotz aller Vorsichtsmaßregeln brachen wir noch dreimal ein, aber nicht wieder so gefährlich wie das erste Mal und jedesmal rissen die Gespanne den Wagen glücklich heraus. Die Geschichte spielte ununterbrochen von Bor¬ mittags 9 bis Abends 7 Uhr; die Flüche, die an diesem Tag auf uns herab¬ regneten, kann man sich denken, denn auf jeder Stromseite hielten die ganze lange Zeit hindurch Hunderte von Wagen, welchen durch unsern Unfall die Passage versperrt war. Wenn man über die Brücke kommt, so befindet sich rechts der Stadt¬ garten, eine schattige Anlage, deren Werth man in diesem Lande des glühen¬ den Sonnenbrandes recht würdigen lernt und gern den Maaßstaab Heimath-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/476>, abgerufen am 23.07.2024.