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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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Grip. Güstrow, Opih) lassen wir einen competenkcrn Richter urtheilen, Claus
Gr oth im Altonaer Merkur nennt diese Sammlung das bedeutendste, was in
neuerer Zeit in plattdeutscher Sprache erschienen ist. Ein norddeutsches Dorf-
leben entfaltet sich in seiner ganzen Eigenthümlichkeit mit allen Figuren, die
dazu gehören, in der vollsten Gesundheit, in der bunten Mannigfaltigkeit aller
Jahreszeiten. Freilich ist es schwerer, im Alltäglichen das Ideale zu finden,
es geht damit wie mit dem Gefühle der Heimat: erst die Entfernung wirft
den duftigen Schleier darüber, der alles poetisch verklärt. Brinkmann ist weit
herumgekommen, er hat Amerika gesehn und dort gelernt, welch ein Schal)
für Herz und Gemüth selbst im engsten deutschen Familien- und Gemeinde¬
band steckt. Das Einleitungsgcdicht spricht rührend und herzlich das deutsche
Heimweh aus, erzählt, wie er im Hafen von Halifax ein Schiffchen mit der
Rostocker Flagge sieht (einen Greifen, daher der Titel des Buchs) und ihn die
Sehnsucht nach Hause überkommt. -- Zum Theil sind die Lieder dem Munde
des Volks entnommen, von einzelnen Wendungen gar, ganz und fertig aus
der Volkssprache genommen, stecken fast alle Gedichte voll, und manche, die
man sonst nicht eben formvollendet nennen möchte, werden interessant als ein
Depositorinm dessen, was im Volke als sein Geist umgeht, in seiner Sprache
als ^dessen Körper sich niedergesetzt hat. Jedes solche Wort ist sicher in seiner
Zeichnung, anschaulich und voll Leben. -- Brinckmanns Gedichte sind eine
neue Fundgrube für den Reichthum der plattdeutschen Sprache. Auf jeder
Seite wird selbst der Kenner auf neue Vocabelu und neue Wendungen stoßen.
Als ginge man botanisiren in einem neue" Gebiet, jeden Augenblick eine neue
Blume und doch nur die verkappte Gestalt einer bekannten, aber auch diese
werden mit neu, der ganze Duft von Wald und Wiese mit ihrer Herrlichkeit
wird noch einmal wieder frühlingsfrisch. -- Den eigenthümlichen Vorzug der
meklenburgischen Mundart haben wir erst hier erkannt: der Mcklenlmrger kann
tosen wie kein andrer Plattdeutscher. Das kommt besonders von seiner Di¬
minutivform auf ing'. -- Es ist etwas Geheimnißvolles um Geist und Leben
einer Sprache, sie leben und sprechen für sich, sie reden und sprechen dem Dich¬
ter über die Schulter. In allen diesen Gedichten redet fast immer ein ernst¬
hafter, schweigsamer, humoristischer Mann mit. So spricht in der nllemanni-
schcn Mundart Hebels immer ein kindliches Wesen, in Grubcls nürnberger
Gedichten ein kluger praktischer Bürger. Das ist der Sprachgeist, der Volks-
Kcist, wie er sich in einem frei gewachsenen Sprachstamm, der nicht fremden
etwa gelehrten und andern Interessen gedient hat, abspiegelt. Vergeblich würde
ein Plattdeutscher sich abmühen, zu scherzen und zu kosen wie Hebel, kein Ale¬
manne aber wäre im Stande, mit dem trocknen Humor oder der tief ergrei¬
fenden Wortkargheit zu schildern wie Brinckmann. .

Die Gedichte von Gisbert Freiherrn Vincke (Berlin, Riegel) ver-


Grip. Güstrow, Opih) lassen wir einen competenkcrn Richter urtheilen, Claus
Gr oth im Altonaer Merkur nennt diese Sammlung das bedeutendste, was in
neuerer Zeit in plattdeutscher Sprache erschienen ist. Ein norddeutsches Dorf-
leben entfaltet sich in seiner ganzen Eigenthümlichkeit mit allen Figuren, die
dazu gehören, in der vollsten Gesundheit, in der bunten Mannigfaltigkeit aller
Jahreszeiten. Freilich ist es schwerer, im Alltäglichen das Ideale zu finden,
es geht damit wie mit dem Gefühle der Heimat: erst die Entfernung wirft
den duftigen Schleier darüber, der alles poetisch verklärt. Brinkmann ist weit
herumgekommen, er hat Amerika gesehn und dort gelernt, welch ein Schal)
für Herz und Gemüth selbst im engsten deutschen Familien- und Gemeinde¬
band steckt. Das Einleitungsgcdicht spricht rührend und herzlich das deutsche
Heimweh aus, erzählt, wie er im Hafen von Halifax ein Schiffchen mit der
Rostocker Flagge sieht (einen Greifen, daher der Titel des Buchs) und ihn die
Sehnsucht nach Hause überkommt. — Zum Theil sind die Lieder dem Munde
des Volks entnommen, von einzelnen Wendungen gar, ganz und fertig aus
der Volkssprache genommen, stecken fast alle Gedichte voll, und manche, die
man sonst nicht eben formvollendet nennen möchte, werden interessant als ein
Depositorinm dessen, was im Volke als sein Geist umgeht, in seiner Sprache
als ^dessen Körper sich niedergesetzt hat. Jedes solche Wort ist sicher in seiner
Zeichnung, anschaulich und voll Leben. — Brinckmanns Gedichte sind eine
neue Fundgrube für den Reichthum der plattdeutschen Sprache. Auf jeder
Seite wird selbst der Kenner auf neue Vocabelu und neue Wendungen stoßen.
Als ginge man botanisiren in einem neue» Gebiet, jeden Augenblick eine neue
Blume und doch nur die verkappte Gestalt einer bekannten, aber auch diese
werden mit neu, der ganze Duft von Wald und Wiese mit ihrer Herrlichkeit
wird noch einmal wieder frühlingsfrisch. — Den eigenthümlichen Vorzug der
meklenburgischen Mundart haben wir erst hier erkannt: der Mcklenlmrger kann
tosen wie kein andrer Plattdeutscher. Das kommt besonders von seiner Di¬
minutivform auf ing'. — Es ist etwas Geheimnißvolles um Geist und Leben
einer Sprache, sie leben und sprechen für sich, sie reden und sprechen dem Dich¬
ter über die Schulter. In allen diesen Gedichten redet fast immer ein ernst¬
hafter, schweigsamer, humoristischer Mann mit. So spricht in der nllemanni-
schcn Mundart Hebels immer ein kindliches Wesen, in Grubcls nürnberger
Gedichten ein kluger praktischer Bürger. Das ist der Sprachgeist, der Volks-
Kcist, wie er sich in einem frei gewachsenen Sprachstamm, der nicht fremden
etwa gelehrten und andern Interessen gedient hat, abspiegelt. Vergeblich würde
ein Plattdeutscher sich abmühen, zu scherzen und zu kosen wie Hebel, kein Ale¬
manne aber wäre im Stande, mit dem trocknen Humor oder der tief ergrei¬
fenden Wortkargheit zu schildern wie Brinckmann. .

Die Gedichte von Gisbert Freiherrn Vincke (Berlin, Riegel) ver-


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[0427] Grip. Güstrow, Opih) lassen wir einen competenkcrn Richter urtheilen, Claus Gr oth im Altonaer Merkur nennt diese Sammlung das bedeutendste, was in neuerer Zeit in plattdeutscher Sprache erschienen ist. Ein norddeutsches Dorf- leben entfaltet sich in seiner ganzen Eigenthümlichkeit mit allen Figuren, die dazu gehören, in der vollsten Gesundheit, in der bunten Mannigfaltigkeit aller Jahreszeiten. Freilich ist es schwerer, im Alltäglichen das Ideale zu finden, es geht damit wie mit dem Gefühle der Heimat: erst die Entfernung wirft den duftigen Schleier darüber, der alles poetisch verklärt. Brinkmann ist weit herumgekommen, er hat Amerika gesehn und dort gelernt, welch ein Schal) für Herz und Gemüth selbst im engsten deutschen Familien- und Gemeinde¬ band steckt. Das Einleitungsgcdicht spricht rührend und herzlich das deutsche Heimweh aus, erzählt, wie er im Hafen von Halifax ein Schiffchen mit der Rostocker Flagge sieht (einen Greifen, daher der Titel des Buchs) und ihn die Sehnsucht nach Hause überkommt. — Zum Theil sind die Lieder dem Munde des Volks entnommen, von einzelnen Wendungen gar, ganz und fertig aus der Volkssprache genommen, stecken fast alle Gedichte voll, und manche, die man sonst nicht eben formvollendet nennen möchte, werden interessant als ein Depositorinm dessen, was im Volke als sein Geist umgeht, in seiner Sprache als ^dessen Körper sich niedergesetzt hat. Jedes solche Wort ist sicher in seiner Zeichnung, anschaulich und voll Leben. — Brinckmanns Gedichte sind eine neue Fundgrube für den Reichthum der plattdeutschen Sprache. Auf jeder Seite wird selbst der Kenner auf neue Vocabelu und neue Wendungen stoßen. Als ginge man botanisiren in einem neue» Gebiet, jeden Augenblick eine neue Blume und doch nur die verkappte Gestalt einer bekannten, aber auch diese werden mit neu, der ganze Duft von Wald und Wiese mit ihrer Herrlichkeit wird noch einmal wieder frühlingsfrisch. — Den eigenthümlichen Vorzug der meklenburgischen Mundart haben wir erst hier erkannt: der Mcklenlmrger kann tosen wie kein andrer Plattdeutscher. Das kommt besonders von seiner Di¬ minutivform auf ing'. — Es ist etwas Geheimnißvolles um Geist und Leben einer Sprache, sie leben und sprechen für sich, sie reden und sprechen dem Dich¬ ter über die Schulter. In allen diesen Gedichten redet fast immer ein ernst¬ hafter, schweigsamer, humoristischer Mann mit. So spricht in der nllemanni- schcn Mundart Hebels immer ein kindliches Wesen, in Grubcls nürnberger Gedichten ein kluger praktischer Bürger. Das ist der Sprachgeist, der Volks- Kcist, wie er sich in einem frei gewachsenen Sprachstamm, der nicht fremden etwa gelehrten und andern Interessen gedient hat, abspiegelt. Vergeblich würde ein Plattdeutscher sich abmühen, zu scherzen und zu kosen wie Hebel, kein Ale¬ manne aber wäre im Stande, mit dem trocknen Humor oder der tief ergrei¬ fenden Wortkargheit zu schildern wie Brinckmann. . Die Gedichte von Gisbert Freiherrn Vincke (Berlin, Riegel) ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/427>, abgerufen am 23.07.2024.