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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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warten; was gerüchtweise von diesen Ideen in das Publikum dringt, bestä¬
tigt das nur zu sehr, und die liberale Partei hat alle ^Veranlassung, ihr Ge¬
wicht, so klein oder so groß es auch sein mag. in die Wagschale zu werfen,
die zwischen Wollen und Nichtwollen eben so die Schwebe hält wie in alten
Tagen.

Das englische Parlament hat die Sünde des Stillschweigens zwar nicht
begangen, was aber bis jetzt gesprochen, ist nicht gerade sehr erbaulich.
Männer vom höchsten Range und höchstem Einfluß in der Opposition wie
Lord Normanby haben sich in Kanncgießereien ergangen, die von Holberg
dargestellt zu werden verdienten. Ein italienischer Staatenbund vertheidigungs-
fähiger als ein Einheitsstaat, weil Italien die Form eines Stiefels hat! So
etwas von einem Führer der Partei gesprochen, zeigt wieder recht deutlich,
mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird. Die Regierung ist augen¬
scheinlich bemüht, das Parlament mit leeren Redensarten hinzuhalten, sie
will den Stand der Frage nicht so hinstellen wie er wirklich ist.*) Doch bür¬
den wir ihr deswegen keine Schuld auf. Im Allgemeinen hat das jetzige
Cabinet in der italienischen Frage gezeigt, daß es sehr gut weiß, was es
will; es wird nur durch seine Isolirtheit geschwächt, da, wie es scheint,
Preußen und Rußland, und zwar nicht im EinVerständniß, sondern jedes auf
eigene Hand, fortfahren eine Politik zu treiben, von der Niemand weiß, woher
und wohin.

Trotz dieser Dämmerung sieht man doch soviel, daß der Kaiser der Fran¬
zosen entschlossen ist, nicht blos für Ideen zu kämpfen, sondern von diesen
Ideen auch Vortheil zu ziehen; daß er die Einverleibung Mittelitaliens in
das Königreich Sardinien nur unter der Bedingung der Abtretung von Sa-
voyen und Nizza zugesteht; daß Sardinien sich heftig dagegen sträubt, daß
es aber, wenn ihm keine andere Wahl gelassen wird als zwischen Savoyen
und Mittelitalien, sich zuletzt dazu verstehen wird auf das erstere zu verzichten
-- oder vielleicht, daß es diese Ueberzeugung bereits gewonnen und bereits
verzichtet hat. Ganz Europa, in allen übrigen Fragen uneins. stimmt da¬
rin vollkommen überein, daß diese Abtretung Savoyens an Frankreich nicht
blos an sich, sondern hauptsächlich als Präcedenzfall die größten Bedenken
nach sich zieht. Trotz dem wird Kaiser Napoleon auch in dieser Sache sein
Stück durchsetzen, weil er nicht blos den Zweck, sondern auch die Mittel will;
weil, wenn er etwas will, er nicht auch zugleich das Gegentheil davon will;
weil er genau berechnet, was er für den Augenblick kann und innerhalb die¬
ser Grenzen mit durchgreifender Entschlossenheit verfährt: Eigenschaften die
heute in Europa selten sind.

Darum gelingt es ihm auch, trotz der scheinbar hastigen Sprünge in sei-



') Ueber die Enthüllungen des Blaubuchs in der nächsten Nummer.

warten; was gerüchtweise von diesen Ideen in das Publikum dringt, bestä¬
tigt das nur zu sehr, und die liberale Partei hat alle ^Veranlassung, ihr Ge¬
wicht, so klein oder so groß es auch sein mag. in die Wagschale zu werfen,
die zwischen Wollen und Nichtwollen eben so die Schwebe hält wie in alten
Tagen.

Das englische Parlament hat die Sünde des Stillschweigens zwar nicht
begangen, was aber bis jetzt gesprochen, ist nicht gerade sehr erbaulich.
Männer vom höchsten Range und höchstem Einfluß in der Opposition wie
Lord Normanby haben sich in Kanncgießereien ergangen, die von Holberg
dargestellt zu werden verdienten. Ein italienischer Staatenbund vertheidigungs-
fähiger als ein Einheitsstaat, weil Italien die Form eines Stiefels hat! So
etwas von einem Führer der Partei gesprochen, zeigt wieder recht deutlich,
mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird. Die Regierung ist augen¬
scheinlich bemüht, das Parlament mit leeren Redensarten hinzuhalten, sie
will den Stand der Frage nicht so hinstellen wie er wirklich ist.*) Doch bür¬
den wir ihr deswegen keine Schuld auf. Im Allgemeinen hat das jetzige
Cabinet in der italienischen Frage gezeigt, daß es sehr gut weiß, was es
will; es wird nur durch seine Isolirtheit geschwächt, da, wie es scheint,
Preußen und Rußland, und zwar nicht im EinVerständniß, sondern jedes auf
eigene Hand, fortfahren eine Politik zu treiben, von der Niemand weiß, woher
und wohin.

Trotz dieser Dämmerung sieht man doch soviel, daß der Kaiser der Fran¬
zosen entschlossen ist, nicht blos für Ideen zu kämpfen, sondern von diesen
Ideen auch Vortheil zu ziehen; daß er die Einverleibung Mittelitaliens in
das Königreich Sardinien nur unter der Bedingung der Abtretung von Sa-
voyen und Nizza zugesteht; daß Sardinien sich heftig dagegen sträubt, daß
es aber, wenn ihm keine andere Wahl gelassen wird als zwischen Savoyen
und Mittelitalien, sich zuletzt dazu verstehen wird auf das erstere zu verzichten
— oder vielleicht, daß es diese Ueberzeugung bereits gewonnen und bereits
verzichtet hat. Ganz Europa, in allen übrigen Fragen uneins. stimmt da¬
rin vollkommen überein, daß diese Abtretung Savoyens an Frankreich nicht
blos an sich, sondern hauptsächlich als Präcedenzfall die größten Bedenken
nach sich zieht. Trotz dem wird Kaiser Napoleon auch in dieser Sache sein
Stück durchsetzen, weil er nicht blos den Zweck, sondern auch die Mittel will;
weil, wenn er etwas will, er nicht auch zugleich das Gegentheil davon will;
weil er genau berechnet, was er für den Augenblick kann und innerhalb die¬
ser Grenzen mit durchgreifender Entschlossenheit verfährt: Eigenschaften die
heute in Europa selten sind.

Darum gelingt es ihm auch, trotz der scheinbar hastigen Sprünge in sei-



') Ueber die Enthüllungen des Blaubuchs in der nächsten Nummer.
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[0334] warten; was gerüchtweise von diesen Ideen in das Publikum dringt, bestä¬ tigt das nur zu sehr, und die liberale Partei hat alle ^Veranlassung, ihr Ge¬ wicht, so klein oder so groß es auch sein mag. in die Wagschale zu werfen, die zwischen Wollen und Nichtwollen eben so die Schwebe hält wie in alten Tagen. Das englische Parlament hat die Sünde des Stillschweigens zwar nicht begangen, was aber bis jetzt gesprochen, ist nicht gerade sehr erbaulich. Männer vom höchsten Range und höchstem Einfluß in der Opposition wie Lord Normanby haben sich in Kanncgießereien ergangen, die von Holberg dargestellt zu werden verdienten. Ein italienischer Staatenbund vertheidigungs- fähiger als ein Einheitsstaat, weil Italien die Form eines Stiefels hat! So etwas von einem Führer der Partei gesprochen, zeigt wieder recht deutlich, mit wie wenig Verstand die Welt regiert wird. Die Regierung ist augen¬ scheinlich bemüht, das Parlament mit leeren Redensarten hinzuhalten, sie will den Stand der Frage nicht so hinstellen wie er wirklich ist.*) Doch bür¬ den wir ihr deswegen keine Schuld auf. Im Allgemeinen hat das jetzige Cabinet in der italienischen Frage gezeigt, daß es sehr gut weiß, was es will; es wird nur durch seine Isolirtheit geschwächt, da, wie es scheint, Preußen und Rußland, und zwar nicht im EinVerständniß, sondern jedes auf eigene Hand, fortfahren eine Politik zu treiben, von der Niemand weiß, woher und wohin. Trotz dieser Dämmerung sieht man doch soviel, daß der Kaiser der Fran¬ zosen entschlossen ist, nicht blos für Ideen zu kämpfen, sondern von diesen Ideen auch Vortheil zu ziehen; daß er die Einverleibung Mittelitaliens in das Königreich Sardinien nur unter der Bedingung der Abtretung von Sa- voyen und Nizza zugesteht; daß Sardinien sich heftig dagegen sträubt, daß es aber, wenn ihm keine andere Wahl gelassen wird als zwischen Savoyen und Mittelitalien, sich zuletzt dazu verstehen wird auf das erstere zu verzichten — oder vielleicht, daß es diese Ueberzeugung bereits gewonnen und bereits verzichtet hat. Ganz Europa, in allen übrigen Fragen uneins. stimmt da¬ rin vollkommen überein, daß diese Abtretung Savoyens an Frankreich nicht blos an sich, sondern hauptsächlich als Präcedenzfall die größten Bedenken nach sich zieht. Trotz dem wird Kaiser Napoleon auch in dieser Sache sein Stück durchsetzen, weil er nicht blos den Zweck, sondern auch die Mittel will; weil, wenn er etwas will, er nicht auch zugleich das Gegentheil davon will; weil er genau berechnet, was er für den Augenblick kann und innerhalb die¬ ser Grenzen mit durchgreifender Entschlossenheit verfährt: Eigenschaften die heute in Europa selten sind. Darum gelingt es ihm auch, trotz der scheinbar hastigen Sprünge in sei- ') Ueber die Enthüllungen des Blaubuchs in der nächsten Nummer.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/334>, abgerufen am 23.07.2024.