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Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.

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schritt der menschlichen Gesellschaft einwirke, theilt Buckle die geistige Thätig¬
keit in die intellektuelle und moralische ein. Die Eintheilung ist nicht ganz
zureichend, da sie das ästhetische Gebiet vernachlässigt, man kann sich aber
vorläufig dabei beruhigen, da er dies in einem spätern Capitel nachholt.

Nach seiner Ansicht nun sind die moralischen Wahrheiten zu allen Zeiten
dieselben gewesen, dagegen ist die intellectuelle Erkenntniß in einer fortwähren¬
den Veränderung und bis zu einem gewissen Grad im stetigem Fortschritt ge¬
blieben. Unmöglich kann der Fortschritt der Menschheit aus einem stabilen
Element hervorgehen. Daraus wird der Schluß gezogen, daß einzig und allein
der Fortschritt in der Erkenntniß den Menschen gefördert habe, während
die Sittlichkeit ganz ohne Einfluß geblieben sei. Fortschritt der exacten
Wissenschaft (seines, von Rüge unrichtig "Wissenschaft" übersetzt) und Fort¬
schritt der Menschheit sagt also dasselbe. Das intellectu'elle Princip ist nicht
nur viel progressiver als das moralische, sondern bringt auch viel dauerndere
Resultate hervor. "Die Erwerbungen der Intelligenz werden in jedem civili-
sirten Lande sorgfältig aufbewahrt, in gewissen wohlverstandenen Formeln auf¬
geführt und durch die Anwendung einer technischen und wissenschaftlichen Sprache
geschützt; sie werden leicht von einer Generation der andern überliefert, nehmen
eine faßliche Form an und üben auf die entfernteste Nachkommenschaft ihren
Einfluß aus. Dagegen sind die guten Thaten, die wir mit unserer sittlichen
Kraft ausüben, weniger zu vererben; sie haben mehr einen Privatcharakter;
weil die Motive, denen sie ihren Ursprung verdanken, gewöhnlich die Folge
von Selbstbeherrschung und Aufopferung sind, so muß jeder sie selbst hervor¬
bringen, und da sie jeder von Neuem zu beginnen hat, so haben sie wenig
Vortheil von den Maximen einer früheren Erfahrung und lassen sich nicht
leicht zum Gebrauch für künftige Moralisten sammeln. Die Folge ist, daß
zwar sittliche Vorzüge liebenswürdiger und für die meisten anziehender sind
als intellectuelle, daß sie aber in ihren weitern Wirkungen von viel geringerer
Dauer sind und viel weniger Gutes stiften. . . . Diese Folgerungen sind ohne
Zweifel vielen sehr ungenießbar, und daß sie unwiderleglich sind, macht sie
noch ganz besonders widerwärtig. Denn je tiefer wir in den Gegenstand ein¬
dringen, desto klarer wird sich uns die Ueberlegenheit des intellectuellen Erwerbs
über das sittliche Gefühl zeigen." Als Hauptbeispiele dafür, einen wie zweifel¬
haften Werth die Tugend für die Menschheit habe, wird angeführt: r) grade
die besten unter den römischen Kaisern waren Christenverfolgcr; 2) die spa¬
nischen Inquisitoren, die so viele Ketzer verbrannten, waren durchweg sehr
rechtschaffene Leute und übten ihr Amt mit der größten Gewissenhaftigkeit aus.

In dieser ganzen Deduction herrscht in Bezug auf Begriffe und Thatsachen
eine so heillose Verwirrung, daß man nicht weiß, wo man mit der Wider¬
legung anfangen soll. Halten wir uns zunächst an die beiden letzten Beispiele.


Grenzboten I. 1860. Z9

schritt der menschlichen Gesellschaft einwirke, theilt Buckle die geistige Thätig¬
keit in die intellektuelle und moralische ein. Die Eintheilung ist nicht ganz
zureichend, da sie das ästhetische Gebiet vernachlässigt, man kann sich aber
vorläufig dabei beruhigen, da er dies in einem spätern Capitel nachholt.

Nach seiner Ansicht nun sind die moralischen Wahrheiten zu allen Zeiten
dieselben gewesen, dagegen ist die intellectuelle Erkenntniß in einer fortwähren¬
den Veränderung und bis zu einem gewissen Grad im stetigem Fortschritt ge¬
blieben. Unmöglich kann der Fortschritt der Menschheit aus einem stabilen
Element hervorgehen. Daraus wird der Schluß gezogen, daß einzig und allein
der Fortschritt in der Erkenntniß den Menschen gefördert habe, während
die Sittlichkeit ganz ohne Einfluß geblieben sei. Fortschritt der exacten
Wissenschaft (seines, von Rüge unrichtig „Wissenschaft" übersetzt) und Fort¬
schritt der Menschheit sagt also dasselbe. Das intellectu'elle Princip ist nicht
nur viel progressiver als das moralische, sondern bringt auch viel dauerndere
Resultate hervor. „Die Erwerbungen der Intelligenz werden in jedem civili-
sirten Lande sorgfältig aufbewahrt, in gewissen wohlverstandenen Formeln auf¬
geführt und durch die Anwendung einer technischen und wissenschaftlichen Sprache
geschützt; sie werden leicht von einer Generation der andern überliefert, nehmen
eine faßliche Form an und üben auf die entfernteste Nachkommenschaft ihren
Einfluß aus. Dagegen sind die guten Thaten, die wir mit unserer sittlichen
Kraft ausüben, weniger zu vererben; sie haben mehr einen Privatcharakter;
weil die Motive, denen sie ihren Ursprung verdanken, gewöhnlich die Folge
von Selbstbeherrschung und Aufopferung sind, so muß jeder sie selbst hervor¬
bringen, und da sie jeder von Neuem zu beginnen hat, so haben sie wenig
Vortheil von den Maximen einer früheren Erfahrung und lassen sich nicht
leicht zum Gebrauch für künftige Moralisten sammeln. Die Folge ist, daß
zwar sittliche Vorzüge liebenswürdiger und für die meisten anziehender sind
als intellectuelle, daß sie aber in ihren weitern Wirkungen von viel geringerer
Dauer sind und viel weniger Gutes stiften. . . . Diese Folgerungen sind ohne
Zweifel vielen sehr ungenießbar, und daß sie unwiderleglich sind, macht sie
noch ganz besonders widerwärtig. Denn je tiefer wir in den Gegenstand ein¬
dringen, desto klarer wird sich uns die Ueberlegenheit des intellectuellen Erwerbs
über das sittliche Gefühl zeigen." Als Hauptbeispiele dafür, einen wie zweifel¬
haften Werth die Tugend für die Menschheit habe, wird angeführt: r) grade
die besten unter den römischen Kaisern waren Christenverfolgcr; 2) die spa¬
nischen Inquisitoren, die so viele Ketzer verbrannten, waren durchweg sehr
rechtschaffene Leute und übten ihr Amt mit der größten Gewissenhaftigkeit aus.

In dieser ganzen Deduction herrscht in Bezug auf Begriffe und Thatsachen
eine so heillose Verwirrung, daß man nicht weiß, wo man mit der Wider¬
legung anfangen soll. Halten wir uns zunächst an die beiden letzten Beispiele.


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[0317] schritt der menschlichen Gesellschaft einwirke, theilt Buckle die geistige Thätig¬ keit in die intellektuelle und moralische ein. Die Eintheilung ist nicht ganz zureichend, da sie das ästhetische Gebiet vernachlässigt, man kann sich aber vorläufig dabei beruhigen, da er dies in einem spätern Capitel nachholt. Nach seiner Ansicht nun sind die moralischen Wahrheiten zu allen Zeiten dieselben gewesen, dagegen ist die intellectuelle Erkenntniß in einer fortwähren¬ den Veränderung und bis zu einem gewissen Grad im stetigem Fortschritt ge¬ blieben. Unmöglich kann der Fortschritt der Menschheit aus einem stabilen Element hervorgehen. Daraus wird der Schluß gezogen, daß einzig und allein der Fortschritt in der Erkenntniß den Menschen gefördert habe, während die Sittlichkeit ganz ohne Einfluß geblieben sei. Fortschritt der exacten Wissenschaft (seines, von Rüge unrichtig „Wissenschaft" übersetzt) und Fort¬ schritt der Menschheit sagt also dasselbe. Das intellectu'elle Princip ist nicht nur viel progressiver als das moralische, sondern bringt auch viel dauerndere Resultate hervor. „Die Erwerbungen der Intelligenz werden in jedem civili- sirten Lande sorgfältig aufbewahrt, in gewissen wohlverstandenen Formeln auf¬ geführt und durch die Anwendung einer technischen und wissenschaftlichen Sprache geschützt; sie werden leicht von einer Generation der andern überliefert, nehmen eine faßliche Form an und üben auf die entfernteste Nachkommenschaft ihren Einfluß aus. Dagegen sind die guten Thaten, die wir mit unserer sittlichen Kraft ausüben, weniger zu vererben; sie haben mehr einen Privatcharakter; weil die Motive, denen sie ihren Ursprung verdanken, gewöhnlich die Folge von Selbstbeherrschung und Aufopferung sind, so muß jeder sie selbst hervor¬ bringen, und da sie jeder von Neuem zu beginnen hat, so haben sie wenig Vortheil von den Maximen einer früheren Erfahrung und lassen sich nicht leicht zum Gebrauch für künftige Moralisten sammeln. Die Folge ist, daß zwar sittliche Vorzüge liebenswürdiger und für die meisten anziehender sind als intellectuelle, daß sie aber in ihren weitern Wirkungen von viel geringerer Dauer sind und viel weniger Gutes stiften. . . . Diese Folgerungen sind ohne Zweifel vielen sehr ungenießbar, und daß sie unwiderleglich sind, macht sie noch ganz besonders widerwärtig. Denn je tiefer wir in den Gegenstand ein¬ dringen, desto klarer wird sich uns die Ueberlegenheit des intellectuellen Erwerbs über das sittliche Gefühl zeigen." Als Hauptbeispiele dafür, einen wie zweifel¬ haften Werth die Tugend für die Menschheit habe, wird angeführt: r) grade die besten unter den römischen Kaisern waren Christenverfolgcr; 2) die spa¬ nischen Inquisitoren, die so viele Ketzer verbrannten, waren durchweg sehr rechtschaffene Leute und übten ihr Amt mit der größten Gewissenhaftigkeit aus. In dieser ganzen Deduction herrscht in Bezug auf Begriffe und Thatsachen eine so heillose Verwirrung, daß man nicht weiß, wo man mit der Wider¬ legung anfangen soll. Halten wir uns zunächst an die beiden letzten Beispiele. Grenzboten I. 1860. Z9

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341594_108721/317>, abgerufen am 23.07.2024.