Die Grenzboten. Jg. 19, 1860, I. Semester. I. Band.fangen zu prüfen, ob er einen wirklichen Apostel vor sich habe; hütet sich ja fangen zu prüfen, ob er einen wirklichen Apostel vor sich habe; hütet sich ja <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0030" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108752"/> <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50" next="#ID_52"> fangen zu prüfen, ob er einen wirklichen Apostel vor sich habe; hütet sich ja<lb/> auch der Naturforscher, wenn man ihm ein neues seltsames Gesetz verkündet,<lb/> dasselbe ungeprüft zu verwerfen. So wendet er sich nun an Cagliostro, an<lb/> Gasner u. s. w., sie geben ihm zuweilen die absurdesten Antworten, keiner<lb/> befriedigt ihn vollständig, aber auch keiner läßt ihn ganz ohne Eindruck.<lb/> Damit nicht zufrieden, fragt er beim Publikum an, ob nicht einer unmittel¬<lb/> bare Wirkungen des Gebets an sich erfahren habe; vielleicht läßt sich aus<lb/> solchen Erfahrungen doch etwas Ganzes machen. — Dabei versäumt er sein<lb/> eignes Innere keineswegs; er führt ein geheimes Tagebuch seiner selbst (was<lb/> er freilich dann drucken läßt), wodurch er sich zwingt jeden Tag auf die be¬<lb/> kannten Gnadenmittel sorgfältig zu achten: was heute nicht gelang, gelingt<lb/> vielleicht morgen. — Der Gemeinde gegenüber hat er als Geistlicher die<lb/> Pflicht der Salbung, dem ungläubigen Zeitalter gegenüber als Freund des<lb/> Evangeliums eine heilige Mission: noch hat er selber zwar nicht die Macht<lb/> des wahren Glaubens, aber der Herrlichkeit dieses Glaubens, an den er glaubt,<lb/> muß er seine Beredtsamkeit leihen, er muß die Verächter desselben mit ihren<lb/> eignen Waffen schlagen; nicht blos die Beredtsamkeit, sondern wo es darauf<lb/> ankommt auch die Poesie ruft er zur Hülfe. Da er kein eigentlicher Schwär¬<lb/> mer ist, da in seiner Seele wirklich ein mächtiger Trieb der Liebe lebt, da er<lb/> sich rein hält von Haß, Neid und Verfolgung: so weiß er sich bis zu einem<lb/> gewissen Grad Allem zu accommodiren. Mit Ausnahme der Berliner Auf¬<lb/> klärer, die im Interesse des Vernunftglaubens ihn aufs Eifrigste verfolgen,<lb/> läßt man ihn auch da gelten, wo man sein Treiben nicht billigt; selbst Ver¬<lb/> standesmenschen, wie Basedow, Merck u. s. w. interessiren sich für ihn. Goethes<lb/> innige Freundschaft in der Jugend begreift sich, da er die Richtung selbst aus<lb/> seinem Verkehr mit Fräulein von Klettenberg kannte und ihr im Ganzen auch<lb/> nahe steht. „Wehe uns, schreibt er 1773 , daß unsre Geistlichen nichts mehr<lb/> von einer unmittelbaren Eingebung wissen!" Sie fühlen ähnlich, aber frei¬<lb/> lich tritt der Unterschied schon damals hervor, Goethe der Realist läßt sich<lb/> an dem Gefühl genügen. „Lieber, schreibt er 1774 an einen Anhänger La-<lb/> vaters, du redest mit mir als einem Ungläubigen, der begreifen will, der nicht<lb/> erfahren hat. Und von all dem ist gerade das Gegentheil in meinem Her¬<lb/> zen. Bin ich nicht resignirter im Begreifen als ihr, hab ich nicht eben das<lb/> erfahren als ihr? ... . Und daß du mich immer mit Zeugnissen packen<lb/> willst! wozu die? brauch' ich Zeugniß, daß ich bin, Zeugniß, daß ich fühle?<lb/> Nur so schätz', lieb', bet' ich die Zeugnisse an, die mir darlegen, wie tausende<lb/> oder einer vor mir eben das gefühlt haben, das mich kräftigt und stärkt.<lb/> Und so ist das Wort der Menschen im Wort Gottes, es mögens Pfaffen<lb/> oder Auren gesammelt und zum Kanon gerollt oder als Fragmente hingestellt<lb/> haben. Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um den Hals: Moses!</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0030]
fangen zu prüfen, ob er einen wirklichen Apostel vor sich habe; hütet sich ja
auch der Naturforscher, wenn man ihm ein neues seltsames Gesetz verkündet,
dasselbe ungeprüft zu verwerfen. So wendet er sich nun an Cagliostro, an
Gasner u. s. w., sie geben ihm zuweilen die absurdesten Antworten, keiner
befriedigt ihn vollständig, aber auch keiner läßt ihn ganz ohne Eindruck.
Damit nicht zufrieden, fragt er beim Publikum an, ob nicht einer unmittel¬
bare Wirkungen des Gebets an sich erfahren habe; vielleicht läßt sich aus
solchen Erfahrungen doch etwas Ganzes machen. — Dabei versäumt er sein
eignes Innere keineswegs; er führt ein geheimes Tagebuch seiner selbst (was
er freilich dann drucken läßt), wodurch er sich zwingt jeden Tag auf die be¬
kannten Gnadenmittel sorgfältig zu achten: was heute nicht gelang, gelingt
vielleicht morgen. — Der Gemeinde gegenüber hat er als Geistlicher die
Pflicht der Salbung, dem ungläubigen Zeitalter gegenüber als Freund des
Evangeliums eine heilige Mission: noch hat er selber zwar nicht die Macht
des wahren Glaubens, aber der Herrlichkeit dieses Glaubens, an den er glaubt,
muß er seine Beredtsamkeit leihen, er muß die Verächter desselben mit ihren
eignen Waffen schlagen; nicht blos die Beredtsamkeit, sondern wo es darauf
ankommt auch die Poesie ruft er zur Hülfe. Da er kein eigentlicher Schwär¬
mer ist, da in seiner Seele wirklich ein mächtiger Trieb der Liebe lebt, da er
sich rein hält von Haß, Neid und Verfolgung: so weiß er sich bis zu einem
gewissen Grad Allem zu accommodiren. Mit Ausnahme der Berliner Auf¬
klärer, die im Interesse des Vernunftglaubens ihn aufs Eifrigste verfolgen,
läßt man ihn auch da gelten, wo man sein Treiben nicht billigt; selbst Ver¬
standesmenschen, wie Basedow, Merck u. s. w. interessiren sich für ihn. Goethes
innige Freundschaft in der Jugend begreift sich, da er die Richtung selbst aus
seinem Verkehr mit Fräulein von Klettenberg kannte und ihr im Ganzen auch
nahe steht. „Wehe uns, schreibt er 1773 , daß unsre Geistlichen nichts mehr
von einer unmittelbaren Eingebung wissen!" Sie fühlen ähnlich, aber frei¬
lich tritt der Unterschied schon damals hervor, Goethe der Realist läßt sich
an dem Gefühl genügen. „Lieber, schreibt er 1774 an einen Anhänger La-
vaters, du redest mit mir als einem Ungläubigen, der begreifen will, der nicht
erfahren hat. Und von all dem ist gerade das Gegentheil in meinem Her¬
zen. Bin ich nicht resignirter im Begreifen als ihr, hab ich nicht eben das
erfahren als ihr? ... . Und daß du mich immer mit Zeugnissen packen
willst! wozu die? brauch' ich Zeugniß, daß ich bin, Zeugniß, daß ich fühle?
Nur so schätz', lieb', bet' ich die Zeugnisse an, die mir darlegen, wie tausende
oder einer vor mir eben das gefühlt haben, das mich kräftigt und stärkt.
Und so ist das Wort der Menschen im Wort Gottes, es mögens Pfaffen
oder Auren gesammelt und zum Kanon gerollt oder als Fragmente hingestellt
haben. Und mit inniger Seele fall ich dem Bruder um den Hals: Moses!
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