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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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gelebt." -- "Es wird Goethe schwer. Italien zu verlassen, und ich fürchte,
daß er sich sobald nicht wieder an deutsche Luft gewöhnen möchte. Freilich
ists ja in Deutschland überall schlecht und die Lust wäre noch am ersten zu
ertragen. Aber unser elendes Neichssustem, Vorurtheile aller Art, Dumpf¬
heit, Plumpheit, Ungefühl, Unart, Ungeschmack und Unsinn. Stolz und Ar¬
muth, das sind Dinge, die noch schlimmer sind als die schlimmste Luft"
(18. April 1788).

Mit großer Verehrung spricht er sich durchweg über Frau von Stein
aus. "Sie ist diejenige hier unter allen, von der ich am meisten Nahrung
für mein Leben ziehe. Reines, richtiges Gefühl bei natürlicher, leidenschafts¬
loser , leichter Disposition haben sie bei eignem Fleiß und durch den Umgang
mit vorzüglichen Menschen, der ihrer äußerst feinen Wißbegierde zu Statten
kam, zu einem Wesen gebildet, dessen Dasein und Art in Deutschland schwer¬
lich oft wieder zu Stande kommen dürfte. Sie ist ohne alle Prütension und
Ziererei, gerad, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht, ohne En¬
thusiasmus und doch mit geistiger Wärme, nimmt an allem Vernünftigen
Antheil und an allem Menschlichen, ist wohlunterrichtet und hat seinen Takt"
(April 1788). "Sie ist eine gar seltene gute Frau, und lebt eigentlich blos in
der Klarheit, die ihr, bei ihrer reizbaren, feinen Natur, schon die Stelle der
Wärme vertritt. Sie lebt eigentlichst im Verstand, und hat doch so gar keine
Prätension von Verstand" (Oct. 1788).

Ernsthaftes Nachdenken erregt folgende Stelle über die Zustände von
Weimar (Oct. 1788): "Das Seinsollen, mit deutscher Armuth und Elend,
ist mir am Hof und in der Stadt nachgrade unerträglich, ^.ut Laosar g.ut
nilril, sagt das lateinische Sprichwort, und das will nur so viel sagen: Halb¬
heit richtet jeden eh/^chen Charakter zu Grunde." -- Das ist doch nicht bloße
Hypochondrie!

Im Mai 1791 folgte Henriette der Einladung ihres Bruders nach
Weimar, wo sie einige Monate darauf die Erziehung der eben fünf Jahr
alten Prinzessin Car oline Luise übernahm. Das gute Verhältniß zwischen
den Geschwistern hörte aber auf. als Knebel Ende 179? sich nach Ilmenau
zurückzog und dort die Kammersängerin Rudorf heirathete. Henriette brach
vollständig mit ihrem Bruder, und ließ sich erst im Sommer 1801 versöhnen.
Im Sommer 1804 nahm Knebel Jena wieder zu seinem Ausenthalt, und
von da an wird der Verkehr lebhafter. Einzelne Urtheile über die herrschende
Literatur sind interessant, weil sie den Ton der guten Gesellschaft charakterisiren.

3. October 1801. "Maria Stuart ist für das Theater zu lang und
ermüdend, und bin ich auch darin unsers Wieland Meinung, der mir unter
andern Aeußerungen der Verzweiflung sagte: wenn ein hübscher Mann von
fünf Fuß und drei Zoll zu mir ins Zimmer tritt, so kann er mir gefallen;


gelebt." — „Es wird Goethe schwer. Italien zu verlassen, und ich fürchte,
daß er sich sobald nicht wieder an deutsche Luft gewöhnen möchte. Freilich
ists ja in Deutschland überall schlecht und die Lust wäre noch am ersten zu
ertragen. Aber unser elendes Neichssustem, Vorurtheile aller Art, Dumpf¬
heit, Plumpheit, Ungefühl, Unart, Ungeschmack und Unsinn. Stolz und Ar¬
muth, das sind Dinge, die noch schlimmer sind als die schlimmste Luft"
(18. April 1788).

Mit großer Verehrung spricht er sich durchweg über Frau von Stein
aus. „Sie ist diejenige hier unter allen, von der ich am meisten Nahrung
für mein Leben ziehe. Reines, richtiges Gefühl bei natürlicher, leidenschafts¬
loser , leichter Disposition haben sie bei eignem Fleiß und durch den Umgang
mit vorzüglichen Menschen, der ihrer äußerst feinen Wißbegierde zu Statten
kam, zu einem Wesen gebildet, dessen Dasein und Art in Deutschland schwer¬
lich oft wieder zu Stande kommen dürfte. Sie ist ohne alle Prütension und
Ziererei, gerad, natürlich, frei, nicht zu schwer und nicht zu leicht, ohne En¬
thusiasmus und doch mit geistiger Wärme, nimmt an allem Vernünftigen
Antheil und an allem Menschlichen, ist wohlunterrichtet und hat seinen Takt"
(April 1788). „Sie ist eine gar seltene gute Frau, und lebt eigentlich blos in
der Klarheit, die ihr, bei ihrer reizbaren, feinen Natur, schon die Stelle der
Wärme vertritt. Sie lebt eigentlichst im Verstand, und hat doch so gar keine
Prätension von Verstand" (Oct. 1788).

Ernsthaftes Nachdenken erregt folgende Stelle über die Zustände von
Weimar (Oct. 1788): „Das Seinsollen, mit deutscher Armuth und Elend,
ist mir am Hof und in der Stadt nachgrade unerträglich, ^.ut Laosar g.ut
nilril, sagt das lateinische Sprichwort, und das will nur so viel sagen: Halb¬
heit richtet jeden eh/^chen Charakter zu Grunde." — Das ist doch nicht bloße
Hypochondrie!

Im Mai 1791 folgte Henriette der Einladung ihres Bruders nach
Weimar, wo sie einige Monate darauf die Erziehung der eben fünf Jahr
alten Prinzessin Car oline Luise übernahm. Das gute Verhältniß zwischen
den Geschwistern hörte aber auf. als Knebel Ende 179? sich nach Ilmenau
zurückzog und dort die Kammersängerin Rudorf heirathete. Henriette brach
vollständig mit ihrem Bruder, und ließ sich erst im Sommer 1801 versöhnen.
Im Sommer 1804 nahm Knebel Jena wieder zu seinem Ausenthalt, und
von da an wird der Verkehr lebhafter. Einzelne Urtheile über die herrschende
Literatur sind interessant, weil sie den Ton der guten Gesellschaft charakterisiren.

3. October 1801. „Maria Stuart ist für das Theater zu lang und
ermüdend, und bin ich auch darin unsers Wieland Meinung, der mir unter
andern Aeußerungen der Verzweiflung sagte: wenn ein hübscher Mann von
fünf Fuß und drei Zoll zu mir ins Zimmer tritt, so kann er mir gefallen;


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/54>, abgerufen am 24.07.2024.