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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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bus, mit welchem Rußland früher seine aggressive Politik verfolgte, ohne auf
ernstlichen Widerstand zu stoßen, ist geschwunden, seitdem der orientalische
Krieg bewiesen hat, daß das Reich zwar nicht zu erobern, aber durch rasche
Entkräftung zu bezwingen ist. Zugleich hat diese Periode vor aller Welt
dargethan, daß Rußlands Hauptvortheil für sich, wie seine Hauptgefahr für
Europa daraus hervorgeht, daß es mit seinen Ansprüchen auf volle Gleich¬
stellung im europäischen System auf ganz andern Voraussetzungen fußt, als
die europäische Welt. Seine Politik ist weder von den gleichen socialen Be¬
ständen bedingt, noch zu gleicher;. Rücksichten auf dieselben gezwungen. Die
gleichen Lebensgrundlagen können sich' erst herstellen, wenn die jetzige Ueber¬
gangsperiode abgethan ist. Erst dann darf die russische Politik -- ans ihrem
Standpunkt -- hoffen, einem sie volo, sie ^judov den nachhaltigen materiellen
Nachdruck unter dem Schutz moralischer Berechtigungen geben zu können.

Allein auch dies wird unmöglich, wenn unterdessen die andern Großstaa¬
ten ihre Wechselbeziehungen ohne Rücksicht auf Rußland consolidiren können.
Eine PSlitik der Beunruhigungen ist das Mittel dies zu verhindern; doch
Rußland muß die Provocation vermeiden, um nicht sein inneres Neorgani-
sationswcrk beeinträchtigt zu sehen. Jsolirt vermöchte es diese einander wider¬
sprechenden Aufgaben nicht durchzuführen. Es bedarf einer alliirten Politik,
mit deren materiellen Interessen es nicht collidirt, mit deren innern Voraus¬
setzungen die seinigen möglichst übereinstimmen. Dies alles bietet der neu-
napoleonische Imperialismus, während überdies die Allianz mit Frankreich
zur Theilung der europäischen Hegemonie eine der Traditionen russischer Po¬
litik seit Katharina ausmacht. Die "organisirte Demokratie" des heutigen
westlichen Absolutismus ist die einzige europäische Staatskunst, welche sich
von den politischen Bedingungen des Bürgerthums lossagt, die für Rußland
nicht existiren. Sie ist ferner die einzige Staatskunst, welche gleichermaßen
wie Nußland, in der Centralisation das Hauptmittel ihrer absoluten Beherr¬
schung des nationalen Lebens findet. Sie ist demzufolge endlich auch die
einzige Staatskunst, welche blos die von ihr octroyirtcn Entwicklungen aner¬
kennt, und deshalb auch die Resultate jeder Lebensgestaltung für den momen¬
tanen Staatszweck in Anspruch nimmt.

In diesen innern Uebcreinstinnnungen liegt die Nothwendigkeit der
russisch-französischen Allianz; die momentane Uebereinstimmung in bestimmten
Politischen Fragen (der Donaufürstenthümer, Italiens ze.) begünstigte blos
als glücklicher Zufall deren raschere Entwicklung. Aber daß sie ungefähr¬
det bleibt, beruht darauf, daß Frankreich am goldenen Horn, in der Ost¬
see, in Mittel- und Hochasien mit Rußlands materiellen Interessen nicht
zusammenstößt. Dieses Verhältniß wird freilich voraussichtlich blos so lauge


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bus, mit welchem Rußland früher seine aggressive Politik verfolgte, ohne auf
ernstlichen Widerstand zu stoßen, ist geschwunden, seitdem der orientalische
Krieg bewiesen hat, daß das Reich zwar nicht zu erobern, aber durch rasche
Entkräftung zu bezwingen ist. Zugleich hat diese Periode vor aller Welt
dargethan, daß Rußlands Hauptvortheil für sich, wie seine Hauptgefahr für
Europa daraus hervorgeht, daß es mit seinen Ansprüchen auf volle Gleich¬
stellung im europäischen System auf ganz andern Voraussetzungen fußt, als
die europäische Welt. Seine Politik ist weder von den gleichen socialen Be¬
ständen bedingt, noch zu gleicher;. Rücksichten auf dieselben gezwungen. Die
gleichen Lebensgrundlagen können sich' erst herstellen, wenn die jetzige Ueber¬
gangsperiode abgethan ist. Erst dann darf die russische Politik — ans ihrem
Standpunkt — hoffen, einem sie volo, sie ^judov den nachhaltigen materiellen
Nachdruck unter dem Schutz moralischer Berechtigungen geben zu können.

Allein auch dies wird unmöglich, wenn unterdessen die andern Großstaa¬
ten ihre Wechselbeziehungen ohne Rücksicht auf Rußland consolidiren können.
Eine PSlitik der Beunruhigungen ist das Mittel dies zu verhindern; doch
Rußland muß die Provocation vermeiden, um nicht sein inneres Neorgani-
sationswcrk beeinträchtigt zu sehen. Jsolirt vermöchte es diese einander wider¬
sprechenden Aufgaben nicht durchzuführen. Es bedarf einer alliirten Politik,
mit deren materiellen Interessen es nicht collidirt, mit deren innern Voraus¬
setzungen die seinigen möglichst übereinstimmen. Dies alles bietet der neu-
napoleonische Imperialismus, während überdies die Allianz mit Frankreich
zur Theilung der europäischen Hegemonie eine der Traditionen russischer Po¬
litik seit Katharina ausmacht. Die „organisirte Demokratie" des heutigen
westlichen Absolutismus ist die einzige europäische Staatskunst, welche sich
von den politischen Bedingungen des Bürgerthums lossagt, die für Rußland
nicht existiren. Sie ist ferner die einzige Staatskunst, welche gleichermaßen
wie Nußland, in der Centralisation das Hauptmittel ihrer absoluten Beherr¬
schung des nationalen Lebens findet. Sie ist demzufolge endlich auch die
einzige Staatskunst, welche blos die von ihr octroyirtcn Entwicklungen aner¬
kennt, und deshalb auch die Resultate jeder Lebensgestaltung für den momen¬
tanen Staatszweck in Anspruch nimmt.

In diesen innern Uebcreinstinnnungen liegt die Nothwendigkeit der
russisch-französischen Allianz; die momentane Uebereinstimmung in bestimmten
Politischen Fragen (der Donaufürstenthümer, Italiens ze.) begünstigte blos
als glücklicher Zufall deren raschere Entwicklung. Aber daß sie ungefähr¬
det bleibt, beruht darauf, daß Frankreich am goldenen Horn, in der Ost¬
see, in Mittel- und Hochasien mit Rußlands materiellen Interessen nicht
zusammenstößt. Dieses Verhältniß wird freilich voraussichtlich blos so lauge


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/427>, abgerufen am 24.07.2024.