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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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allen Frohndiensten und Abgaben befreit; wenn er sich eines Vergehens schul¬
dig macht, so erhält er einen Verweis, aber niemals wird man wagen, ihn
zu strafen. Die Kinder beten zu ihren verstorbenen Eltern wie zu Haus¬
göttern und bringen ihnen Opfer. Dasselbe thun Schüler mit Lehrern, welche
mit Tode abgehen. Die Hochachtung, welche ein Anämie gegen seinen Vater,
seine Mutter und seinen Lehrer an den Tag legt, würde bewundernswerth
sein, wenn sie von Herzen käme, aber sie ist wie die meisten Tugenden dieses
Volkes meist nur Verstellung. Keine Nation scheint sich aus das Heucheln
und Täuschen besser zu verstehen als die cmamitische, und unser Gewährs¬
mann-- der fast acht Jahr dort zugebracht hat -- ist der Meinung, je freund¬
licher und demüthiger ein Anämie sich einem Fremden nahe, desto sicherer
könnte dieser sein, daß er etwas gegen ihn im Schilde führe. Von aufrich¬
tiger Anhänglichkeit und Treue hätten sie keine Ahnung, hündisch unterwürfig
gegen den, der ihnen mit zweifelloser Gewalt gegenübertrete, würden sie, wenn
das Glück dem Mächtigen den Rücken kehrte, mit um so schamloserer Frech¬
heit und um so hochmütigerer Geberde gegen ihn auftreten, je tiefer vorher
ihre Verbeugungen, je wärmer ihre Versicherungen der Dankbarkeit oder Ehr¬
furcht gewesen seien.

Bouilleveaux schließt seine Schilderung von Land und Leuten mit folgen¬
den Worten:

"Alles wohl erwogen ist das Kaiserreich Aram von den Ländern Asiens
dasjenige, welches sich, wenn es in den Händen der Franzosen wäre, sehr
leicht die christliche Civilisation aneignen würde. (Der Verfasser meint nach
dem Folgenden wol nur die äußere Politur und Dressur dieser Civilisation).
Die Anamiten haben sicher nicht die geistige Kraft, die Energie und den Thä¬
tigkeitstrieb der Europäer, aber sie sind dafür in der Regel auch nicht den
Excessen der Leidenschaft unterworfen, welche bei den Abendländern häufig
ein ungebändigter Sinn begeht. Ihre Sitten sind milder, ich möchte sogar
sagen, anständiger, wenigstens äußerlich, als die der Franzosen. Es kommen
bei uns jeden Tag eine Menge von Nachlässigkeiten und Ungcbührlichkeitcn,
vor, welche in Kochinchina als grobe Verbrechen betrachtet werden würden.
Dennoch darf man diese armen Kinder Altans nicht loben, wenn sie voll
Rücksicht, Artigkeit, Bescheidenheit und selbst Demuth sind; denn in diesem
Lande ist die Demuth eine Tugend des Herkommens, des guten Tons, und
sie sind außerdem Heuchler, Betrüger, Diebe und vor allen Dingen Lügner
in einem Grade, der allen Ausdruck übersteigt."




allen Frohndiensten und Abgaben befreit; wenn er sich eines Vergehens schul¬
dig macht, so erhält er einen Verweis, aber niemals wird man wagen, ihn
zu strafen. Die Kinder beten zu ihren verstorbenen Eltern wie zu Haus¬
göttern und bringen ihnen Opfer. Dasselbe thun Schüler mit Lehrern, welche
mit Tode abgehen. Die Hochachtung, welche ein Anämie gegen seinen Vater,
seine Mutter und seinen Lehrer an den Tag legt, würde bewundernswerth
sein, wenn sie von Herzen käme, aber sie ist wie die meisten Tugenden dieses
Volkes meist nur Verstellung. Keine Nation scheint sich aus das Heucheln
und Täuschen besser zu verstehen als die cmamitische, und unser Gewährs¬
mann— der fast acht Jahr dort zugebracht hat — ist der Meinung, je freund¬
licher und demüthiger ein Anämie sich einem Fremden nahe, desto sicherer
könnte dieser sein, daß er etwas gegen ihn im Schilde führe. Von aufrich¬
tiger Anhänglichkeit und Treue hätten sie keine Ahnung, hündisch unterwürfig
gegen den, der ihnen mit zweifelloser Gewalt gegenübertrete, würden sie, wenn
das Glück dem Mächtigen den Rücken kehrte, mit um so schamloserer Frech¬
heit und um so hochmütigerer Geberde gegen ihn auftreten, je tiefer vorher
ihre Verbeugungen, je wärmer ihre Versicherungen der Dankbarkeit oder Ehr¬
furcht gewesen seien.

Bouilleveaux schließt seine Schilderung von Land und Leuten mit folgen¬
den Worten:

„Alles wohl erwogen ist das Kaiserreich Aram von den Ländern Asiens
dasjenige, welches sich, wenn es in den Händen der Franzosen wäre, sehr
leicht die christliche Civilisation aneignen würde. (Der Verfasser meint nach
dem Folgenden wol nur die äußere Politur und Dressur dieser Civilisation).
Die Anamiten haben sicher nicht die geistige Kraft, die Energie und den Thä¬
tigkeitstrieb der Europäer, aber sie sind dafür in der Regel auch nicht den
Excessen der Leidenschaft unterworfen, welche bei den Abendländern häufig
ein ungebändigter Sinn begeht. Ihre Sitten sind milder, ich möchte sogar
sagen, anständiger, wenigstens äußerlich, als die der Franzosen. Es kommen
bei uns jeden Tag eine Menge von Nachlässigkeiten und Ungcbührlichkeitcn,
vor, welche in Kochinchina als grobe Verbrechen betrachtet werden würden.
Dennoch darf man diese armen Kinder Altans nicht loben, wenn sie voll
Rücksicht, Artigkeit, Bescheidenheit und selbst Demuth sind; denn in diesem
Lande ist die Demuth eine Tugend des Herkommens, des guten Tons, und
sie sind außerdem Heuchler, Betrüger, Diebe und vor allen Dingen Lügner
in einem Grade, der allen Ausdruck übersteigt."




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[0390] allen Frohndiensten und Abgaben befreit; wenn er sich eines Vergehens schul¬ dig macht, so erhält er einen Verweis, aber niemals wird man wagen, ihn zu strafen. Die Kinder beten zu ihren verstorbenen Eltern wie zu Haus¬ göttern und bringen ihnen Opfer. Dasselbe thun Schüler mit Lehrern, welche mit Tode abgehen. Die Hochachtung, welche ein Anämie gegen seinen Vater, seine Mutter und seinen Lehrer an den Tag legt, würde bewundernswerth sein, wenn sie von Herzen käme, aber sie ist wie die meisten Tugenden dieses Volkes meist nur Verstellung. Keine Nation scheint sich aus das Heucheln und Täuschen besser zu verstehen als die cmamitische, und unser Gewährs¬ mann— der fast acht Jahr dort zugebracht hat — ist der Meinung, je freund¬ licher und demüthiger ein Anämie sich einem Fremden nahe, desto sicherer könnte dieser sein, daß er etwas gegen ihn im Schilde führe. Von aufrich¬ tiger Anhänglichkeit und Treue hätten sie keine Ahnung, hündisch unterwürfig gegen den, der ihnen mit zweifelloser Gewalt gegenübertrete, würden sie, wenn das Glück dem Mächtigen den Rücken kehrte, mit um so schamloserer Frech¬ heit und um so hochmütigerer Geberde gegen ihn auftreten, je tiefer vorher ihre Verbeugungen, je wärmer ihre Versicherungen der Dankbarkeit oder Ehr¬ furcht gewesen seien. Bouilleveaux schließt seine Schilderung von Land und Leuten mit folgen¬ den Worten: „Alles wohl erwogen ist das Kaiserreich Aram von den Ländern Asiens dasjenige, welches sich, wenn es in den Händen der Franzosen wäre, sehr leicht die christliche Civilisation aneignen würde. (Der Verfasser meint nach dem Folgenden wol nur die äußere Politur und Dressur dieser Civilisation). Die Anamiten haben sicher nicht die geistige Kraft, die Energie und den Thä¬ tigkeitstrieb der Europäer, aber sie sind dafür in der Regel auch nicht den Excessen der Leidenschaft unterworfen, welche bei den Abendländern häufig ein ungebändigter Sinn begeht. Ihre Sitten sind milder, ich möchte sogar sagen, anständiger, wenigstens äußerlich, als die der Franzosen. Es kommen bei uns jeden Tag eine Menge von Nachlässigkeiten und Ungcbührlichkeitcn, vor, welche in Kochinchina als grobe Verbrechen betrachtet werden würden. Dennoch darf man diese armen Kinder Altans nicht loben, wenn sie voll Rücksicht, Artigkeit, Bescheidenheit und selbst Demuth sind; denn in diesem Lande ist die Demuth eine Tugend des Herkommens, des guten Tons, und sie sind außerdem Heuchler, Betrüger, Diebe und vor allen Dingen Lügner in einem Grade, der allen Ausdruck übersteigt."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/390>, abgerufen am 24.07.2024.