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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Wiederholt kam er unverrichteter Sache zurück. Da plötzlich wich der
Nebel auf der einen Seite, und über den weißen Dünsten erhob sich, grausen-
voll anzusehen, schwarz beschattet, von weißen Schneerinnen gefurcht, gleich
dem Haupte eines wüsten Niesen, der Vater der Styx. der Gipfel des Chel-
wvs vor uns. Die Wolke that sich weiter aus. und der ganze mächtige Berg
drang mit seinen schwarzen Tannen auf grauem Gestein, seinen unheimlichen
Schluchten und Ncbelgebilden auf uns ein. Ein frischer Wind öffnete das
Wolkenthor noch weiter, und uun sahen wir in ein halb in wandernde Schat¬
ten gehülltes, halb beleuchtetes Thal hinab. durch das sich, mindestens zwei¬
tausend Fuß unter unserm Standort ein grünlicher Fluß hinwand, welcher,
der Seite des Berges entquollen, als dünne, weiße Schaumkaskade in neh-
men Abfäsen in eine dunkle Schlucht hinabstürzte. Es war die Styx. der
Grenzstrom der Unterwelt, das giftige Wasser des Schattenlandes, bei dem
die Götter ihre heiligsten Eide schwuren.

Man denkt auf Reisen in Griechenland an mancherlei Bilder des Alter¬
thums lebhafter, als daheim. Man wird aber auch über Manches enttäuscht,
indem man es kleiner findet, als man sichs selbst geschaffen. Auch das Thal
der Styx mag bei anderer Beleuchtung kein Ort des Grauens sein. In
dieser Beschattung, in dem trostlos unwirthlichen Dämmerlicht, welches darüber
ausgegossen war. als wir in seine Tiefe hinabschauten, nach dieser Vorbereitung
durch 'Einsamkeit, webende Wolken, feuchte Kälte, Verwirrung und Einengung
des Gesichtskreises durch schwankende Dünste, in diesem unheimlichen Wechsel
matter, fahler Sonnenblicke und dunkelnder Stellen an den Berghängen, in
diesem Verfließen und Schwanken der Gestaltung des Thales, über dem un-
verrückt und ewig der finstre, mit dem Schnee des Alters bedeckte Chelmos
emporstarrte, war die Landschaft düsterer und schauerlicher, als ich mir
die Unterwelt Homers gedacht. Die Züge von Nebeln, welche über
den Wasserfall "hinwallten, nahmen Gestalt an und glichen den Sche¬
inen, die mir erschienen waren, wenn ich von der Todtenbeschwörung
des Odysseus gelesen. Die grünliche Farbe des Gesteins an den Seiten
des beleuchteten Theils der Gegend und im Bette des Flusses ließ an
Grünspcchn denken. Die Kahlheit und Nacktheit der Kesselwände unmittelbar
unter uns machte den Eindruck, als ob hier überhaupt kein Leben gediehe.
Wenn seitwärts ein Thal mit zahlreichen Dörfern und ihren Baumgnrten
sich öffnete, so hing darüber eine nachtschwarze Wolle, welche die freundlich
rothen Dächer und die lcbensgrünen Wipfel so seltsam beschattete, daß man
sie für eine bloße Fata Morgana halten konnte, hierher gezaubert, um die
zum Nichts verdammten Seelen im Orkus durch den Schein unerreichbarer
Genüsse zu peinigen. Wenn die hellenische Mythe ihre Bilder der Unterwelt


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Wiederholt kam er unverrichteter Sache zurück. Da plötzlich wich der
Nebel auf der einen Seite, und über den weißen Dünsten erhob sich, grausen-
voll anzusehen, schwarz beschattet, von weißen Schneerinnen gefurcht, gleich
dem Haupte eines wüsten Niesen, der Vater der Styx. der Gipfel des Chel-
wvs vor uns. Die Wolke that sich weiter aus. und der ganze mächtige Berg
drang mit seinen schwarzen Tannen auf grauem Gestein, seinen unheimlichen
Schluchten und Ncbelgebilden auf uns ein. Ein frischer Wind öffnete das
Wolkenthor noch weiter, und uun sahen wir in ein halb in wandernde Schat¬
ten gehülltes, halb beleuchtetes Thal hinab. durch das sich, mindestens zwei¬
tausend Fuß unter unserm Standort ein grünlicher Fluß hinwand, welcher,
der Seite des Berges entquollen, als dünne, weiße Schaumkaskade in neh-
men Abfäsen in eine dunkle Schlucht hinabstürzte. Es war die Styx. der
Grenzstrom der Unterwelt, das giftige Wasser des Schattenlandes, bei dem
die Götter ihre heiligsten Eide schwuren.

Man denkt auf Reisen in Griechenland an mancherlei Bilder des Alter¬
thums lebhafter, als daheim. Man wird aber auch über Manches enttäuscht,
indem man es kleiner findet, als man sichs selbst geschaffen. Auch das Thal
der Styx mag bei anderer Beleuchtung kein Ort des Grauens sein. In
dieser Beschattung, in dem trostlos unwirthlichen Dämmerlicht, welches darüber
ausgegossen war. als wir in seine Tiefe hinabschauten, nach dieser Vorbereitung
durch 'Einsamkeit, webende Wolken, feuchte Kälte, Verwirrung und Einengung
des Gesichtskreises durch schwankende Dünste, in diesem unheimlichen Wechsel
matter, fahler Sonnenblicke und dunkelnder Stellen an den Berghängen, in
diesem Verfließen und Schwanken der Gestaltung des Thales, über dem un-
verrückt und ewig der finstre, mit dem Schnee des Alters bedeckte Chelmos
emporstarrte, war die Landschaft düsterer und schauerlicher, als ich mir
die Unterwelt Homers gedacht. Die Züge von Nebeln, welche über
den Wasserfall "hinwallten, nahmen Gestalt an und glichen den Sche¬
inen, die mir erschienen waren, wenn ich von der Todtenbeschwörung
des Odysseus gelesen. Die grünliche Farbe des Gesteins an den Seiten
des beleuchteten Theils der Gegend und im Bette des Flusses ließ an
Grünspcchn denken. Die Kahlheit und Nacktheit der Kesselwände unmittelbar
unter uns machte den Eindruck, als ob hier überhaupt kein Leben gediehe.
Wenn seitwärts ein Thal mit zahlreichen Dörfern und ihren Baumgnrten
sich öffnete, so hing darüber eine nachtschwarze Wolle, welche die freundlich
rothen Dächer und die lcbensgrünen Wipfel so seltsam beschattete, daß man
sie für eine bloße Fata Morgana halten konnte, hierher gezaubert, um die
zum Nichts verdammten Seelen im Orkus durch den Schein unerreichbarer
Genüsse zu peinigen. Wenn die hellenische Mythe ihre Bilder der Unterwelt


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[0037] Wiederholt kam er unverrichteter Sache zurück. Da plötzlich wich der Nebel auf der einen Seite, und über den weißen Dünsten erhob sich, grausen- voll anzusehen, schwarz beschattet, von weißen Schneerinnen gefurcht, gleich dem Haupte eines wüsten Niesen, der Vater der Styx. der Gipfel des Chel- wvs vor uns. Die Wolke that sich weiter aus. und der ganze mächtige Berg drang mit seinen schwarzen Tannen auf grauem Gestein, seinen unheimlichen Schluchten und Ncbelgebilden auf uns ein. Ein frischer Wind öffnete das Wolkenthor noch weiter, und uun sahen wir in ein halb in wandernde Schat¬ ten gehülltes, halb beleuchtetes Thal hinab. durch das sich, mindestens zwei¬ tausend Fuß unter unserm Standort ein grünlicher Fluß hinwand, welcher, der Seite des Berges entquollen, als dünne, weiße Schaumkaskade in neh- men Abfäsen in eine dunkle Schlucht hinabstürzte. Es war die Styx. der Grenzstrom der Unterwelt, das giftige Wasser des Schattenlandes, bei dem die Götter ihre heiligsten Eide schwuren. Man denkt auf Reisen in Griechenland an mancherlei Bilder des Alter¬ thums lebhafter, als daheim. Man wird aber auch über Manches enttäuscht, indem man es kleiner findet, als man sichs selbst geschaffen. Auch das Thal der Styx mag bei anderer Beleuchtung kein Ort des Grauens sein. In dieser Beschattung, in dem trostlos unwirthlichen Dämmerlicht, welches darüber ausgegossen war. als wir in seine Tiefe hinabschauten, nach dieser Vorbereitung durch 'Einsamkeit, webende Wolken, feuchte Kälte, Verwirrung und Einengung des Gesichtskreises durch schwankende Dünste, in diesem unheimlichen Wechsel matter, fahler Sonnenblicke und dunkelnder Stellen an den Berghängen, in diesem Verfließen und Schwanken der Gestaltung des Thales, über dem un- verrückt und ewig der finstre, mit dem Schnee des Alters bedeckte Chelmos emporstarrte, war die Landschaft düsterer und schauerlicher, als ich mir die Unterwelt Homers gedacht. Die Züge von Nebeln, welche über den Wasserfall "hinwallten, nahmen Gestalt an und glichen den Sche¬ inen, die mir erschienen waren, wenn ich von der Todtenbeschwörung des Odysseus gelesen. Die grünliche Farbe des Gesteins an den Seiten des beleuchteten Theils der Gegend und im Bette des Flusses ließ an Grünspcchn denken. Die Kahlheit und Nacktheit der Kesselwände unmittelbar unter uns machte den Eindruck, als ob hier überhaupt kein Leben gediehe. Wenn seitwärts ein Thal mit zahlreichen Dörfern und ihren Baumgnrten sich öffnete, so hing darüber eine nachtschwarze Wolle, welche die freundlich rothen Dächer und die lcbensgrünen Wipfel so seltsam beschattete, daß man sie für eine bloße Fata Morgana halten konnte, hierher gezaubert, um die zum Nichts verdammten Seelen im Orkus durch den Schein unerreichbarer Genüsse zu peinigen. Wenn die hellenische Mythe ihre Bilder der Unterwelt 4*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/37>, abgerufen am 24.07.2024.