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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Dichter der Mitschuldigen, des Götz und auch des Werther ihn nicht geschrie¬
ben haben, wenn nicht der Knabe Wolfgang mit seiner Schwester, während
der Vater sich rasirte, die heftigen Scenen zwischen Satan und Adrcnnelcch
declamirt Hütten. Die gesnmmten Glieder des Hainbunds gehörten in diese
Kategorie und es macht einen äußerst komischen Eindruck, die Briefe des nüch¬
ternen Voß zu lesen, in denen er sich geberdet wie ein durch die Macht des
Gefühls innerlich verwüsteter Titan.

Es ist bekannt, daß Natur und Ideal, nachdem sie lange verbrüdert zu¬
sammengegangen, sich endlich trennten, und daß der Sieg dem reinen Idealis¬
mus blieb, der alle Beziehungen auf Natur und Wirklichkeit von sich ablehnte.
Es ist bekannt, daß dieser Sieg ein Resultat des Bundes zwischen Goethe
und Schiller, zwischen Schlegel und Fichte, zwischen Dichtkunst und Philosophie
war. Zwar wurde durch diesen Sieg der Realismus nicht ausgerottet, aber
er wurde in das Gebiet des Gemeinen herabgedrückt, und es dauerte fast ein
halbes Jahrhundert, bis er wieder in Achtung kam. Infolge dessen hat man
die Poeten der Natur, die den ursprünglichen Weg der Entwicklung einschlu¬
gen, später außer Acht gelassen und es ist ein dankenswerthes Unternehmen,
auf sie wieder hinzuweisen. Von allen diesen Naturalisten ist vielleicht keiner,
der sein Princip so rein festhält, als Claudius. Freilich ist es ein Princip,
und wenn auch seine Briefe denselben Stil zeigen, wie seine für den Druck
bestimmten Schriften, so ergibt sich doch aus einer unbefangenen Betrachtung
seiner Prosa, daß er sich diesen Stil erst angeeignet hat. Claudius ist dock)
niemals ganz der Schneider Asmus, niemals ganz der Invalide Görgel, ja
selbst in seinen Briefen an Herder blickt das wahre Gesicht zuweilen hinter
der Maske durch. Die kindliche Naivetät, die er überall ausspricht, ist. wen"
wir von den Liedern absetzn, in denen er einen vollen Einklang der Stimmung
erreicht hat, in seiner Prosa meist liebenswürdig, oft witzig, zuweilen geiht'
reich, aber selten oder nie naiv.

Matthias Claudius ist am 15. August 1740 in dem holsteinische"
Marktflecken Neinfeld, zwei Meilen von Lübeck geboren. Die Familie hatte
mehre Jahrhunderte hindurch das Pastorat verwaltet und den patriarchalische"
Charakter bewahrt, der sich in Landpfarrer immer noch am meisten erhält-
Der Vater unterrichtete die zahlreichen Kinder selbst. Bibel und Gesangbuch
waren die Hauptelemente d>er Erziehung. Der Knabe verkehrte gern und vie-
mit den Bauern, deren Plattdeutsch er fertig redete, aber doch immer als
Sohn eines Studirten; auch hatte die Familie am herzoglichen Hofe zu Pi^
Zutritt, der damaligen Landesherrschaft, so wie in den zahlreichen Edelsinn
der Umgebung. Nach der Confirmation besuchte Matthias die lateinische
Schule zu Plön, wo viel Rhetorik, Poetik, formale Logik und was sonst w't
der Wolfischen Philosophie zusammenhing, getrieben wurde; auch der Rat-'


Dichter der Mitschuldigen, des Götz und auch des Werther ihn nicht geschrie¬
ben haben, wenn nicht der Knabe Wolfgang mit seiner Schwester, während
der Vater sich rasirte, die heftigen Scenen zwischen Satan und Adrcnnelcch
declamirt Hütten. Die gesnmmten Glieder des Hainbunds gehörten in diese
Kategorie und es macht einen äußerst komischen Eindruck, die Briefe des nüch¬
ternen Voß zu lesen, in denen er sich geberdet wie ein durch die Macht des
Gefühls innerlich verwüsteter Titan.

Es ist bekannt, daß Natur und Ideal, nachdem sie lange verbrüdert zu¬
sammengegangen, sich endlich trennten, und daß der Sieg dem reinen Idealis¬
mus blieb, der alle Beziehungen auf Natur und Wirklichkeit von sich ablehnte.
Es ist bekannt, daß dieser Sieg ein Resultat des Bundes zwischen Goethe
und Schiller, zwischen Schlegel und Fichte, zwischen Dichtkunst und Philosophie
war. Zwar wurde durch diesen Sieg der Realismus nicht ausgerottet, aber
er wurde in das Gebiet des Gemeinen herabgedrückt, und es dauerte fast ein
halbes Jahrhundert, bis er wieder in Achtung kam. Infolge dessen hat man
die Poeten der Natur, die den ursprünglichen Weg der Entwicklung einschlu¬
gen, später außer Acht gelassen und es ist ein dankenswerthes Unternehmen,
auf sie wieder hinzuweisen. Von allen diesen Naturalisten ist vielleicht keiner,
der sein Princip so rein festhält, als Claudius. Freilich ist es ein Princip,
und wenn auch seine Briefe denselben Stil zeigen, wie seine für den Druck
bestimmten Schriften, so ergibt sich doch aus einer unbefangenen Betrachtung
seiner Prosa, daß er sich diesen Stil erst angeeignet hat. Claudius ist dock)
niemals ganz der Schneider Asmus, niemals ganz der Invalide Görgel, ja
selbst in seinen Briefen an Herder blickt das wahre Gesicht zuweilen hinter
der Maske durch. Die kindliche Naivetät, die er überall ausspricht, ist. wen»
wir von den Liedern absetzn, in denen er einen vollen Einklang der Stimmung
erreicht hat, in seiner Prosa meist liebenswürdig, oft witzig, zuweilen geiht'
reich, aber selten oder nie naiv.

Matthias Claudius ist am 15. August 1740 in dem holsteinische»
Marktflecken Neinfeld, zwei Meilen von Lübeck geboren. Die Familie hatte
mehre Jahrhunderte hindurch das Pastorat verwaltet und den patriarchalische"
Charakter bewahrt, der sich in Landpfarrer immer noch am meisten erhält-
Der Vater unterrichtete die zahlreichen Kinder selbst. Bibel und Gesangbuch
waren die Hauptelemente d>er Erziehung. Der Knabe verkehrte gern und vie-
mit den Bauern, deren Plattdeutsch er fertig redete, aber doch immer als
Sohn eines Studirten; auch hatte die Familie am herzoglichen Hofe zu Pi^
Zutritt, der damaligen Landesherrschaft, so wie in den zahlreichen Edelsinn
der Umgebung. Nach der Confirmation besuchte Matthias die lateinische
Schule zu Plön, wo viel Rhetorik, Poetik, formale Logik und was sonst w't
der Wolfischen Philosophie zusammenhing, getrieben wurde; auch der Rat-'


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[0342] Dichter der Mitschuldigen, des Götz und auch des Werther ihn nicht geschrie¬ ben haben, wenn nicht der Knabe Wolfgang mit seiner Schwester, während der Vater sich rasirte, die heftigen Scenen zwischen Satan und Adrcnnelcch declamirt Hütten. Die gesnmmten Glieder des Hainbunds gehörten in diese Kategorie und es macht einen äußerst komischen Eindruck, die Briefe des nüch¬ ternen Voß zu lesen, in denen er sich geberdet wie ein durch die Macht des Gefühls innerlich verwüsteter Titan. Es ist bekannt, daß Natur und Ideal, nachdem sie lange verbrüdert zu¬ sammengegangen, sich endlich trennten, und daß der Sieg dem reinen Idealis¬ mus blieb, der alle Beziehungen auf Natur und Wirklichkeit von sich ablehnte. Es ist bekannt, daß dieser Sieg ein Resultat des Bundes zwischen Goethe und Schiller, zwischen Schlegel und Fichte, zwischen Dichtkunst und Philosophie war. Zwar wurde durch diesen Sieg der Realismus nicht ausgerottet, aber er wurde in das Gebiet des Gemeinen herabgedrückt, und es dauerte fast ein halbes Jahrhundert, bis er wieder in Achtung kam. Infolge dessen hat man die Poeten der Natur, die den ursprünglichen Weg der Entwicklung einschlu¬ gen, später außer Acht gelassen und es ist ein dankenswerthes Unternehmen, auf sie wieder hinzuweisen. Von allen diesen Naturalisten ist vielleicht keiner, der sein Princip so rein festhält, als Claudius. Freilich ist es ein Princip, und wenn auch seine Briefe denselben Stil zeigen, wie seine für den Druck bestimmten Schriften, so ergibt sich doch aus einer unbefangenen Betrachtung seiner Prosa, daß er sich diesen Stil erst angeeignet hat. Claudius ist dock) niemals ganz der Schneider Asmus, niemals ganz der Invalide Görgel, ja selbst in seinen Briefen an Herder blickt das wahre Gesicht zuweilen hinter der Maske durch. Die kindliche Naivetät, die er überall ausspricht, ist. wen» wir von den Liedern absetzn, in denen er einen vollen Einklang der Stimmung erreicht hat, in seiner Prosa meist liebenswürdig, oft witzig, zuweilen geiht' reich, aber selten oder nie naiv. Matthias Claudius ist am 15. August 1740 in dem holsteinische» Marktflecken Neinfeld, zwei Meilen von Lübeck geboren. Die Familie hatte mehre Jahrhunderte hindurch das Pastorat verwaltet und den patriarchalische" Charakter bewahrt, der sich in Landpfarrer immer noch am meisten erhält- Der Vater unterrichtete die zahlreichen Kinder selbst. Bibel und Gesangbuch waren die Hauptelemente d>er Erziehung. Der Knabe verkehrte gern und vie- mit den Bauern, deren Plattdeutsch er fertig redete, aber doch immer als Sohn eines Studirten; auch hatte die Familie am herzoglichen Hofe zu Pi^ Zutritt, der damaligen Landesherrschaft, so wie in den zahlreichen Edelsinn der Umgebung. Nach der Confirmation besuchte Matthias die lateinische Schule zu Plön, wo viel Rhetorik, Poetik, formale Logik und was sonst w't der Wolfischen Philosophie zusammenhing, getrieben wurde; auch der Rat-'

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/342>, abgerufen am 24.07.2024.