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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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Gesicht werfen, aber ihr werdet auch keine neue Kirche gründen. Rüttelt
nicht an dem alten Gebäude, dessen Ruinen euch begraben würden! Oder wenn
euch das zu herausfordernd klingt, so setzt "wir" statt "ihr", "wir" sind auch
damit einverstanden.

Die evangelische Kirche ist nothwendig als streitende Kirche gegen den
Katholicismus; sie lst nothwendig als streitende Kirche gegen Barbarei und
Bestialität; sie ist endlich unsre geschichtliche Heimath, das altgewohnte
Haus unsrer theuersten Empfindungen. Auch wir halten sie der Verbesserung
für bedürftig und für fähig, aber der angestrebte Weg ist ein falscher. Die
Verbesserung der evangelischen Kirche ersolgt durch den Fortschritt der Wissen¬
schaft und des Staats; das Gedeihen der Kirche hängt von ihrer innigen
Verbindung mit beiden ab.

Nicht das souveräne Belieben der Masse soll die Kirche hervorbringen,
aber sie steht mit der Bildung der Masse in inniger Wechselwirkung. Sorgt
für gute Schulen bis in die untersten Kreise des Volks herab, und die Uni¬
versitäten, die Pflanzschulen der Geistlichen, werden nicht daran denken, eine
Bildung zu verbreiten, die der allgemeinen Bildung, der wirklich allgemeinen
widerstrebt; gebt gute Gesetze, pflegt und erweitert die bestehenden Organi¬
sationen des Volkes, damit die Arbeit des Werkeltags von Segen sei, und
es wird dem Sonntag eine aufrichtige Andacht entgegenbringen. Wir haben
schon früher auseinandergesetzt, daß wir selber das schöne Amt eines Geist¬
lichen nicht auf uns nehmen können; aber dafür können wir sorgen, daß die
alte Theologie, die byzantinische Dogmatik nicht wieder aus dem Schutt her¬
vorgezogen werde. Die Geistlichen sollen Seelsorger sein und nicht theologische
Streithengste. Auch hier geht das Uebel von den großen Städten aus, wo
die Wirksamkeit der Geistlichen freilich eine sehr eingeschränkte ist.

Der leitende Grundsatz alles wahren Fortschritts ist, daß jeder an seinem
Platz seine Schuldigkeit thut, und sich nicht etwa einbildet, die Rechtfertigung
Gottes in dem Weltganzen übernehmen zu müssen. Wir, so weit wir den ge¬
lehrten Kreisen angehören, haben die Wissenschaft zu Pflegen, wie sie als das
Erbe der Griechen durch das unsterbliche Wirken unsrer classischen Literatur
uns überliefert ist; in dieser Beziehung sind wir vollkommen frei, jede Accom-
modation entwürdigt die Heiligkeit des Gedankens. Wir als Bürger haben
nach bester Einsicht für das Wohl der Gemeinde und des ganzen Staats ein¬
zutreten, unsern Willen aber dem Gesetz und dem Gemeinwillen unterzuordnen.
Wir als Mitglieder der historischen Kirche haben uns daran zu erinnern, daß
diese Kirche, auch wenn sie nicht durchweg in reinen Händen ist, eine heilige
Mission zur Erziehung des Volks, eine Pflegerin des Ideals, ein Erinnerungs¬
zeichen an den Himmel ist, der das Leben sichtbar umgibt. Je mehr wir
uns überzeugen, daß wir selbst diese Mission nicht ausüben können, da die


Gesicht werfen, aber ihr werdet auch keine neue Kirche gründen. Rüttelt
nicht an dem alten Gebäude, dessen Ruinen euch begraben würden! Oder wenn
euch das zu herausfordernd klingt, so setzt „wir" statt „ihr", „wir" sind auch
damit einverstanden.

Die evangelische Kirche ist nothwendig als streitende Kirche gegen den
Katholicismus; sie lst nothwendig als streitende Kirche gegen Barbarei und
Bestialität; sie ist endlich unsre geschichtliche Heimath, das altgewohnte
Haus unsrer theuersten Empfindungen. Auch wir halten sie der Verbesserung
für bedürftig und für fähig, aber der angestrebte Weg ist ein falscher. Die
Verbesserung der evangelischen Kirche ersolgt durch den Fortschritt der Wissen¬
schaft und des Staats; das Gedeihen der Kirche hängt von ihrer innigen
Verbindung mit beiden ab.

Nicht das souveräne Belieben der Masse soll die Kirche hervorbringen,
aber sie steht mit der Bildung der Masse in inniger Wechselwirkung. Sorgt
für gute Schulen bis in die untersten Kreise des Volks herab, und die Uni¬
versitäten, die Pflanzschulen der Geistlichen, werden nicht daran denken, eine
Bildung zu verbreiten, die der allgemeinen Bildung, der wirklich allgemeinen
widerstrebt; gebt gute Gesetze, pflegt und erweitert die bestehenden Organi¬
sationen des Volkes, damit die Arbeit des Werkeltags von Segen sei, und
es wird dem Sonntag eine aufrichtige Andacht entgegenbringen. Wir haben
schon früher auseinandergesetzt, daß wir selber das schöne Amt eines Geist¬
lichen nicht auf uns nehmen können; aber dafür können wir sorgen, daß die
alte Theologie, die byzantinische Dogmatik nicht wieder aus dem Schutt her¬
vorgezogen werde. Die Geistlichen sollen Seelsorger sein und nicht theologische
Streithengste. Auch hier geht das Uebel von den großen Städten aus, wo
die Wirksamkeit der Geistlichen freilich eine sehr eingeschränkte ist.

Der leitende Grundsatz alles wahren Fortschritts ist, daß jeder an seinem
Platz seine Schuldigkeit thut, und sich nicht etwa einbildet, die Rechtfertigung
Gottes in dem Weltganzen übernehmen zu müssen. Wir, so weit wir den ge¬
lehrten Kreisen angehören, haben die Wissenschaft zu Pflegen, wie sie als das
Erbe der Griechen durch das unsterbliche Wirken unsrer classischen Literatur
uns überliefert ist; in dieser Beziehung sind wir vollkommen frei, jede Accom-
modation entwürdigt die Heiligkeit des Gedankens. Wir als Bürger haben
nach bester Einsicht für das Wohl der Gemeinde und des ganzen Staats ein¬
zutreten, unsern Willen aber dem Gesetz und dem Gemeinwillen unterzuordnen.
Wir als Mitglieder der historischen Kirche haben uns daran zu erinnern, daß
diese Kirche, auch wenn sie nicht durchweg in reinen Händen ist, eine heilige
Mission zur Erziehung des Volks, eine Pflegerin des Ideals, ein Erinnerungs¬
zeichen an den Himmel ist, der das Leben sichtbar umgibt. Je mehr wir
uns überzeugen, daß wir selbst diese Mission nicht ausüben können, da die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/28>, abgerufen am 24.07.2024.