Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.Kunst zu erblicken. An Stelle der auf einer freien Würdigung der formalen Kunst zu erblicken. An Stelle der auf einer freien Würdigung der formalen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0272" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/187224"/> <p xml:id="ID_764" prev="#ID_763" next="#ID_765"> Kunst zu erblicken. An Stelle der auf einer freien Würdigung der formalen<lb/> Eigenschaften der Antike beruhenden selbstständigen Reproduction der classischen<lb/> Formenwelt tritt eine unfreie pedantische Nachahmung der römischen Monu¬<lb/> mente in ihrer Totalität. Hatte man bisher in der äußern Erscheinung eines<lb/> Bauwerks dessen inneres Wesen, seine geistige Tendenz auszusprechen gesucht,<lb/> in dem glücklichen Erreichen dieses Zieles aber die architektonische Schönheit<lb/> gefunden, so gab es jetzt nur ein Heil für die Kunst: die strenge Befolgung<lb/> des aus den Büchern des Vitruv und den antiken Baurestcn abstrahirten und<lb/> berechneten Kanon. War man bisher bemüht gewesen, den Innenraum dem<lb/> räumlichen Bedürfniß und dem statischen Vermögen entsprechend organisch<lb/> durchzubilden, so schlug man jetzt alle technischen Resultate der Vergangenheit<lb/> kühn in die Schanze, um zu dem embryonischen Zustand des Römergewölbes<lb/> zurückzukehren. Die äußere Architektur entwickelt sich nicht nothwendig und<lb/> organisch von Innen heraus, sie ist eine reine Decoration nach dem Schema<lb/> römischer Kunstformen geworden, die dem Baukörper äußerlich aufgeheftet<lb/> wird. Der organische Zusammenhang des innern Seins und des äußern<lb/> Scheins ist gelöst, an die Stelle der Nothwendigkeit tritt freies Belieben,<lb/> WilMr. Dazu kommt noch, daß mit dem Copiren des römischen Formalismus<lb/> die lose unorganische Verbindung des Säulen-und Gewölbebaues, die der römi¬<lb/> schen Kunst charakteristisch, der modernen Baukunst übertragen wurde. Hatte aber<lb/> schon die römische Kunst das tiefere Verständniß der griechischen Formen verloren,<lb/> so mußte das todte Copiren des römischen Details eine um so größere Leere und<lb/> Trockenheit erzeugen, je äußerlicher und unselbständiger man bei der Nachahmung<lb/> verfuhr. Die Fa^abe hatte aufgehört das „Angesicht" zu sein „worin der<lb/> Bau seine Seele nach außen ausspricht/' sie war sich selbst Zweck geworden.<lb/> Was Wunder wenn da auch der letzte Schein architektonischer Gesetz¬<lb/> mäßigkeit über Bord geworfen, die schrankenlose Subjektivität mit all ihren<lb/> Launen, ihrer Willkür auf den Thron erhoben ward? So erscheinen denn jene<lb/> lügenhaften Kolossalsäulcn und Pilaster mit ihren Niesengebälken (nach dew<lb/> Vorbild der römischen Tempel), die den mehrstöckigen Bau in eine einstöckige<lb/> Blendfayadc zwängen, jene gebrochenen, zerschnittenen Giebel über Thür und<lb/> Fenster, jene gerollten und gekräuselten Schnörkel und Schnecken, jene<lb/> schwungenen und geschweiften Linien in Grund- und Aufriß. Die Architektur<lb/> löst sich in ein tolles, leidenschaftliches Formenspiel, in eine üppige, kokette,<lb/> aller Vernunft und allem Gesetz Hohn sprechende Manier auf. Der Rococo<lb/> feiert seine Orgien. ZV6ta.t. e'est, moi, das war der Grundgedanke in Kirche<lb/> und Staat, und darum auch in der Architektur. Auf der einen Seite der<lb/> restaurirte Katholicismus mit seiner künstlichen Wiederbelebung abgestorbener<lb/> Zustände, seinem gespreizten und gemachten Wesen, seinem leeren äußeren<lb/> Prunk, seiner Hohlheit und Lüge, seinem innern Widerspruch und darum</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0272]
Kunst zu erblicken. An Stelle der auf einer freien Würdigung der formalen
Eigenschaften der Antike beruhenden selbstständigen Reproduction der classischen
Formenwelt tritt eine unfreie pedantische Nachahmung der römischen Monu¬
mente in ihrer Totalität. Hatte man bisher in der äußern Erscheinung eines
Bauwerks dessen inneres Wesen, seine geistige Tendenz auszusprechen gesucht,
in dem glücklichen Erreichen dieses Zieles aber die architektonische Schönheit
gefunden, so gab es jetzt nur ein Heil für die Kunst: die strenge Befolgung
des aus den Büchern des Vitruv und den antiken Baurestcn abstrahirten und
berechneten Kanon. War man bisher bemüht gewesen, den Innenraum dem
räumlichen Bedürfniß und dem statischen Vermögen entsprechend organisch
durchzubilden, so schlug man jetzt alle technischen Resultate der Vergangenheit
kühn in die Schanze, um zu dem embryonischen Zustand des Römergewölbes
zurückzukehren. Die äußere Architektur entwickelt sich nicht nothwendig und
organisch von Innen heraus, sie ist eine reine Decoration nach dem Schema
römischer Kunstformen geworden, die dem Baukörper äußerlich aufgeheftet
wird. Der organische Zusammenhang des innern Seins und des äußern
Scheins ist gelöst, an die Stelle der Nothwendigkeit tritt freies Belieben,
WilMr. Dazu kommt noch, daß mit dem Copiren des römischen Formalismus
die lose unorganische Verbindung des Säulen-und Gewölbebaues, die der römi¬
schen Kunst charakteristisch, der modernen Baukunst übertragen wurde. Hatte aber
schon die römische Kunst das tiefere Verständniß der griechischen Formen verloren,
so mußte das todte Copiren des römischen Details eine um so größere Leere und
Trockenheit erzeugen, je äußerlicher und unselbständiger man bei der Nachahmung
verfuhr. Die Fa^abe hatte aufgehört das „Angesicht" zu sein „worin der
Bau seine Seele nach außen ausspricht/' sie war sich selbst Zweck geworden.
Was Wunder wenn da auch der letzte Schein architektonischer Gesetz¬
mäßigkeit über Bord geworfen, die schrankenlose Subjektivität mit all ihren
Launen, ihrer Willkür auf den Thron erhoben ward? So erscheinen denn jene
lügenhaften Kolossalsäulcn und Pilaster mit ihren Niesengebälken (nach dew
Vorbild der römischen Tempel), die den mehrstöckigen Bau in eine einstöckige
Blendfayadc zwängen, jene gebrochenen, zerschnittenen Giebel über Thür und
Fenster, jene gerollten und gekräuselten Schnörkel und Schnecken, jene
schwungenen und geschweiften Linien in Grund- und Aufriß. Die Architektur
löst sich in ein tolles, leidenschaftliches Formenspiel, in eine üppige, kokette,
aller Vernunft und allem Gesetz Hohn sprechende Manier auf. Der Rococo
feiert seine Orgien. ZV6ta.t. e'est, moi, das war der Grundgedanke in Kirche
und Staat, und darum auch in der Architektur. Auf der einen Seite der
restaurirte Katholicismus mit seiner künstlichen Wiederbelebung abgestorbener
Zustände, seinem gespreizten und gemachten Wesen, seinem leeren äußeren
Prunk, seiner Hohlheit und Lüge, seinem innern Widerspruch und darum
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