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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band.

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gebracht sind. Daß es der Gothik nicht darum zu thun war, klimatischen
Erfordernissen Rechnung zu tragen, das beweisen die unzähligen Einzelglieder
wie ihren Thürmchen und Giebeln. Spitzen und Blumen, in die der gothische
Bau sich auflöst, die ohne schützendes Dach in ihrer endlosen Zerklüftung dem
unvermeidlichen Verderben entgegenstreben. Durchbrach man doch selbst, ohne
auch nur die mindeste Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und aus die Natur des
Materials zu nehmen, den steinernen Thurmhelm nach geometrischen Mustern,
dnn zerstörenden Einfluß der Witterung eine willkommene Stätte bereitend.
Ob aber der gothische Stil in dem auf dem künstlichsten Gleichgewicht der
Gegensätze beruhenden, hart an die Grenze des technisch Möglichen streifenden
Bogen- und Pfeilerbau Zweckmäßigkeitsrücksichten erfüllt oder auch nur ver¬
sagt, möchten wir um so mehr bezweifeln, als durch das Schadhaftwerden
eines baulichen Gliedes, das überdies durch seine Formation gutem provocirt
^u-d, die Existenz des ganzen Organismus in Frage gestellt ist. Der Brand
^s Dachstuhls hat schon oft die ganze Kirche in Trümmer geworfen. Daß
^es aber die Gothik zu Ermöglichung ihrer steinernen Effecte des haltenden
Und klammernden Eisens bedienen muß, darf hier um so weniger verschwiegen
^den. als eben das Eisen durch Oxydation zum gefährlichsten Gegner des
Steines wird.

Die freie Naumüberdeckung im Gewölbebau war die technische Errungen¬
schaft des Mittelalters. Den Bogen- und Gewölbebau hatten wir aber schon
"ben als ein unerläßliches Moment der monumentalen Baukunst erwiesen,
^kennen wir aber im gothischen Spitzbogen den bedeutendsten Factor zur
Verwirklichung des mittelalterlichen Baugedankens, so sind wir doch weit me-
s^'ut. in ihm die absolute Vollendung des Wölbprincips finden zu wollen.
Spitzbogen ist jener rücksichtslose Berticalismns gegeben und bedingt,
^ wol das nothwendige Ergebniß der mittelalterlichen Geistesrichtung, darum
""er auch der zweifellose Ausdruck jener schroffsten Einseitigkeit geworden ist.
^er Rundbogen dagegen gestattet, wie wir oben darzulegen bemüht waren,
nach Seiten hin eine freie, ungehinderte Bewegung; im Rundbogen
'egt aber auch das allgemeine, statisch natürliche Princip der Naumüberspcm-
^ung durch Fügung einzelner Theile ausgesprochen. Drückt sich aber im
^chitrav der Horizontalismus, im Spitzbogen der Verticalismus in seiner
2"uzen Entschiedenheit aus, so liegt im Rundbogen die Synthesis gegeben.
^ eine Verschmelzung des Giltigen und Berechtigten in beiden Stilprincipien
Abglicht. Hierin aber erkennen wir eben die Aufgabe der modernen
Baukunst.

Dauerndes aber entsteht nur im Anschluß an das Wesenhafte der Ver¬
legenheit, ein Abweichen vom historischen Boden führt zur Willkür. Darum
essen auch wir nach einem Anknüpfungspunkt suchen, um jenen mittelalter-


gebracht sind. Daß es der Gothik nicht darum zu thun war, klimatischen
Erfordernissen Rechnung zu tragen, das beweisen die unzähligen Einzelglieder
wie ihren Thürmchen und Giebeln. Spitzen und Blumen, in die der gothische
Bau sich auflöst, die ohne schützendes Dach in ihrer endlosen Zerklüftung dem
unvermeidlichen Verderben entgegenstreben. Durchbrach man doch selbst, ohne
auch nur die mindeste Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und aus die Natur des
Materials zu nehmen, den steinernen Thurmhelm nach geometrischen Mustern,
dnn zerstörenden Einfluß der Witterung eine willkommene Stätte bereitend.
Ob aber der gothische Stil in dem auf dem künstlichsten Gleichgewicht der
Gegensätze beruhenden, hart an die Grenze des technisch Möglichen streifenden
Bogen- und Pfeilerbau Zweckmäßigkeitsrücksichten erfüllt oder auch nur ver¬
sagt, möchten wir um so mehr bezweifeln, als durch das Schadhaftwerden
eines baulichen Gliedes, das überdies durch seine Formation gutem provocirt
^u-d, die Existenz des ganzen Organismus in Frage gestellt ist. Der Brand
^s Dachstuhls hat schon oft die ganze Kirche in Trümmer geworfen. Daß
^es aber die Gothik zu Ermöglichung ihrer steinernen Effecte des haltenden
Und klammernden Eisens bedienen muß, darf hier um so weniger verschwiegen
^den. als eben das Eisen durch Oxydation zum gefährlichsten Gegner des
Steines wird.

Die freie Naumüberdeckung im Gewölbebau war die technische Errungen¬
schaft des Mittelalters. Den Bogen- und Gewölbebau hatten wir aber schon
"ben als ein unerläßliches Moment der monumentalen Baukunst erwiesen,
^kennen wir aber im gothischen Spitzbogen den bedeutendsten Factor zur
Verwirklichung des mittelalterlichen Baugedankens, so sind wir doch weit me-
s^'ut. in ihm die absolute Vollendung des Wölbprincips finden zu wollen.
Spitzbogen ist jener rücksichtslose Berticalismns gegeben und bedingt,
^ wol das nothwendige Ergebniß der mittelalterlichen Geistesrichtung, darum
""er auch der zweifellose Ausdruck jener schroffsten Einseitigkeit geworden ist.
^er Rundbogen dagegen gestattet, wie wir oben darzulegen bemüht waren,
nach Seiten hin eine freie, ungehinderte Bewegung; im Rundbogen
'egt aber auch das allgemeine, statisch natürliche Princip der Naumüberspcm-
^ung durch Fügung einzelner Theile ausgesprochen. Drückt sich aber im
^chitrav der Horizontalismus, im Spitzbogen der Verticalismus in seiner
2"uzen Entschiedenheit aus, so liegt im Rundbogen die Synthesis gegeben.
^ eine Verschmelzung des Giltigen und Berechtigten in beiden Stilprincipien
Abglicht. Hierin aber erkennen wir eben die Aufgabe der modernen
Baukunst.

Dauerndes aber entsteht nur im Anschluß an das Wesenhafte der Ver¬
legenheit, ein Abweichen vom historischen Boden führt zur Willkür. Darum
essen auch wir nach einem Anknüpfungspunkt suchen, um jenen mittelalter-


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[0161] gebracht sind. Daß es der Gothik nicht darum zu thun war, klimatischen Erfordernissen Rechnung zu tragen, das beweisen die unzähligen Einzelglieder wie ihren Thürmchen und Giebeln. Spitzen und Blumen, in die der gothische Bau sich auflöst, die ohne schützendes Dach in ihrer endlosen Zerklüftung dem unvermeidlichen Verderben entgegenstreben. Durchbrach man doch selbst, ohne auch nur die mindeste Rücksicht auf Zweckmäßigkeit und aus die Natur des Materials zu nehmen, den steinernen Thurmhelm nach geometrischen Mustern, dnn zerstörenden Einfluß der Witterung eine willkommene Stätte bereitend. Ob aber der gothische Stil in dem auf dem künstlichsten Gleichgewicht der Gegensätze beruhenden, hart an die Grenze des technisch Möglichen streifenden Bogen- und Pfeilerbau Zweckmäßigkeitsrücksichten erfüllt oder auch nur ver¬ sagt, möchten wir um so mehr bezweifeln, als durch das Schadhaftwerden eines baulichen Gliedes, das überdies durch seine Formation gutem provocirt ^u-d, die Existenz des ganzen Organismus in Frage gestellt ist. Der Brand ^s Dachstuhls hat schon oft die ganze Kirche in Trümmer geworfen. Daß ^es aber die Gothik zu Ermöglichung ihrer steinernen Effecte des haltenden Und klammernden Eisens bedienen muß, darf hier um so weniger verschwiegen ^den. als eben das Eisen durch Oxydation zum gefährlichsten Gegner des Steines wird. Die freie Naumüberdeckung im Gewölbebau war die technische Errungen¬ schaft des Mittelalters. Den Bogen- und Gewölbebau hatten wir aber schon "ben als ein unerläßliches Moment der monumentalen Baukunst erwiesen, ^kennen wir aber im gothischen Spitzbogen den bedeutendsten Factor zur Verwirklichung des mittelalterlichen Baugedankens, so sind wir doch weit me- s^'ut. in ihm die absolute Vollendung des Wölbprincips finden zu wollen. Spitzbogen ist jener rücksichtslose Berticalismns gegeben und bedingt, ^ wol das nothwendige Ergebniß der mittelalterlichen Geistesrichtung, darum ""er auch der zweifellose Ausdruck jener schroffsten Einseitigkeit geworden ist. ^er Rundbogen dagegen gestattet, wie wir oben darzulegen bemüht waren, nach Seiten hin eine freie, ungehinderte Bewegung; im Rundbogen 'egt aber auch das allgemeine, statisch natürliche Princip der Naumüberspcm- ^ung durch Fügung einzelner Theile ausgesprochen. Drückt sich aber im ^chitrav der Horizontalismus, im Spitzbogen der Verticalismus in seiner 2"uzen Entschiedenheit aus, so liegt im Rundbogen die Synthesis gegeben. ^ eine Verschmelzung des Giltigen und Berechtigten in beiden Stilprincipien Abglicht. Hierin aber erkennen wir eben die Aufgabe der modernen Baukunst. Dauerndes aber entsteht nur im Anschluß an das Wesenhafte der Ver¬ legenheit, ein Abweichen vom historischen Boden führt zur Willkür. Darum essen auch wir nach einem Anknüpfungspunkt suchen, um jenen mittelalter-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_186950/161>, abgerufen am 24.07.2024.