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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Mcingefühl; und aus dem Bedürfniß der Gemeinsamkeit ging innerhalb des Staats
-- wie in Frankreich und England -- die Ausgleichung der Dialekte hervor; die
gemeinsame Sprache wurde das Kennzeichen der Nation. Ob einzelne eroberte
Provinzen mit anderer Zunge dazukamen, war gleichgiltig; der Franzose, der Eng¬
länder, der Russe kannten sich an der Sprache.

Nun trat das Bedürfniß ein, diese zunächst nur ideale Einheit des Staats
mit der Nation real zu machen, d. h. den Bürgern einen wirklichen Antheil am
Staat zu geben. In England war das constitutionelle System naturwüchsig ent¬
standen, die andern Staaten ahmten es seit der Revolution nach. Das Wohlthä¬
tige dieses Systems liegt nicht allein in der Controle der Regierung, sondern darin,
daß es das gemeinsame nationale Bewußtsein wirklich constituirt.

Einer von diesen Nationalstaaten -- der polnische -- wurde zertrümmert; ein
anderer -- Deutschland -- löste sich in verschiedene Staaten auf, doch erst nachdem
die Gemeinsamkeit der Sprache befestigt war; Italien wurde die Beute des Auslands.
Aber die einmal erwachte Völkerseelc regte sich fort und fort, und ihr Trieb, sich
"nen Körper zu geben, wurde die Federkraft der neuen Zeit.

Nicht jede Kraft hat das Recht zum geschichtlichen Erfolg; nicht jede Nation
die Möglichkeit einer staatlichen Existenz. Es gehören dazu manche andere Bedin¬
gungen: die Größe und innere Lebenskraft des Volks; ein ausgedehntes und zusammen¬
hängendes Local; endlich der historische Organismus eines Staats, der sich all-
Mälig zur Nation erweitern kann. Daß man noch nicht allgemein im Klaren
ist, welcher von den historischen Staaten der Trüger der deutschen Nation sein kann,
hält die Constituirung Deutschlands auf, macht sie aber nicht unmöglich; die Klar¬
heit wird kommen und es sind dazu schon gute Anfänge gemacht. Der Trieb der
Nation, aus dem idealen Gebiet ins reale überzugehn, und auf der andern Seite
der kraftvolle Organismus des Staats, der diesem Trieb Befriedigung bietet -- so¬
bald beides sich entgegenkommt, wird auch der Umschmclzungsproceß Deutschlands
Und Italiens nicht ausbleiben. Freilich muß man nicht damit anfangen, eine Sprach-
karte zu entwerfen und danach seine politischen Einrichtungen zu treffen: nur die-
ttnigcn Länder können einem Staat angehören, die er beherrschen und sich assimiliren
kann; die Träumerei von der Einverleibung Lieflands in ein deutsches Reich gehört
in die politische Kinderstube.

Von diesem Standpunkt aus betrachten wir es als einen sehr erheblichen Ge¬
winn, daß man jetzt, nach dem Frieden, die Bestrebungen Sardiniens richtiger
würdigt als früher. Freilich haben die Italiener die rechte Feuerprobe noch nicht
^standen, aber ihre bisherige Haltung ist doch in hohem Grade geeignet, die über¬
weisen Politiker zu beschämen, die ihnen die Fähigkeit der Organisation absprechen.
^Ub daß jeder Fortschritt der nationalen Sache in Italien auch die deutsche fördert,
kann nur der leugnen, der die Macht der Ideen in der neuen Geschichte und ihre
Fortpflanzung leugnet: d. h. der Doctrinär in der Maske des altklugen Empirikers,
Wie ^ er uns in jenem Büchlein entgegentritt.




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Mcingefühl; und aus dem Bedürfniß der Gemeinsamkeit ging innerhalb des Staats
— wie in Frankreich und England — die Ausgleichung der Dialekte hervor; die
gemeinsame Sprache wurde das Kennzeichen der Nation. Ob einzelne eroberte
Provinzen mit anderer Zunge dazukamen, war gleichgiltig; der Franzose, der Eng¬
länder, der Russe kannten sich an der Sprache.

Nun trat das Bedürfniß ein, diese zunächst nur ideale Einheit des Staats
mit der Nation real zu machen, d. h. den Bürgern einen wirklichen Antheil am
Staat zu geben. In England war das constitutionelle System naturwüchsig ent¬
standen, die andern Staaten ahmten es seit der Revolution nach. Das Wohlthä¬
tige dieses Systems liegt nicht allein in der Controle der Regierung, sondern darin,
daß es das gemeinsame nationale Bewußtsein wirklich constituirt.

Einer von diesen Nationalstaaten — der polnische — wurde zertrümmert; ein
anderer — Deutschland — löste sich in verschiedene Staaten auf, doch erst nachdem
die Gemeinsamkeit der Sprache befestigt war; Italien wurde die Beute des Auslands.
Aber die einmal erwachte Völkerseelc regte sich fort und fort, und ihr Trieb, sich
«nen Körper zu geben, wurde die Federkraft der neuen Zeit.

Nicht jede Kraft hat das Recht zum geschichtlichen Erfolg; nicht jede Nation
die Möglichkeit einer staatlichen Existenz. Es gehören dazu manche andere Bedin¬
gungen: die Größe und innere Lebenskraft des Volks; ein ausgedehntes und zusammen¬
hängendes Local; endlich der historische Organismus eines Staats, der sich all-
Mälig zur Nation erweitern kann. Daß man noch nicht allgemein im Klaren
ist, welcher von den historischen Staaten der Trüger der deutschen Nation sein kann,
hält die Constituirung Deutschlands auf, macht sie aber nicht unmöglich; die Klar¬
heit wird kommen und es sind dazu schon gute Anfänge gemacht. Der Trieb der
Nation, aus dem idealen Gebiet ins reale überzugehn, und auf der andern Seite
der kraftvolle Organismus des Staats, der diesem Trieb Befriedigung bietet — so¬
bald beides sich entgegenkommt, wird auch der Umschmclzungsproceß Deutschlands
Und Italiens nicht ausbleiben. Freilich muß man nicht damit anfangen, eine Sprach-
karte zu entwerfen und danach seine politischen Einrichtungen zu treffen: nur die-
ttnigcn Länder können einem Staat angehören, die er beherrschen und sich assimiliren
kann; die Träumerei von der Einverleibung Lieflands in ein deutsches Reich gehört
in die politische Kinderstube.

Von diesem Standpunkt aus betrachten wir es als einen sehr erheblichen Ge¬
winn, daß man jetzt, nach dem Frieden, die Bestrebungen Sardiniens richtiger
würdigt als früher. Freilich haben die Italiener die rechte Feuerprobe noch nicht
^standen, aber ihre bisherige Haltung ist doch in hohem Grade geeignet, die über¬
weisen Politiker zu beschämen, die ihnen die Fähigkeit der Organisation absprechen.
^Ub daß jeder Fortschritt der nationalen Sache in Italien auch die deutsche fördert,
kann nur der leugnen, der die Macht der Ideen in der neuen Geschichte und ihre
Fortpflanzung leugnet: d. h. der Doctrinär in der Maske des altklugen Empirikers,
Wie ^ er uns in jenem Büchlein entgegentritt.




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/87>, abgerufen am 23.07.2024.