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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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sie verfügen kann. Stellt man sie z. B. mit einer Rachel zusammen, so
steht sie dieser in mancher Beziehung nach, ihr sinniges und seelenvolles Auge
hat nicht jene dämonische Kraft, die uns aus dem dunklen Auge der Rachel
entgegenblitzte und uns gewissermaßen den Glauben an das Entsetzlichste
ohne Anstrengung einjagte: der Versuch, mit einem bloßen Blicke eine gewal¬
tige Herzensbewegung zu erzählen, wird von ihr nur mit äußerster Vorsicht
gewagt werden dürfen. Ebenso ist es mit der Stimme. In dem tiefen Alt
der Rachel hörte man schon von fern den Donner der innern Leidenschaften
grollen, und wenn sie ihnen den Zügel ließ, so war kein Widerstand möglich;
die ganze Erscheinung war ein Dämon geworden. Alle diese Naturwirkungen,
die freilich einen außerordentlichen Zauber ausüben, darf unsere Künstlerin
nur behutsam versuchen: es muß ihr, wenn wir uns so ausdrücken dürsen,
wehr daran liegen den Zuschauer zu überzeugen als ihn zu überraschen. Wenn
also auch nicht die ganze Zeit einer gedankenvollen Ausfassung der Kunst zu¬
strebte, so würde unsere Künstlerin durch die Eigenthümlichkeit ihrer Natur¬
anlagen dazu veranlaßt werden, ihren genialen Instinkt durch das Nachdenken
Zu leiten.

Hier muß auf ein Mißverständniß aufmerksam gemacht werden, das uns
leicht begegnet, wenn wir die entgegengesetzten Pole, die aber zu einem Wesen
gehören, von einander trennen. Die Bezeichnung eines denkenden Künstlers
hat gewöhnlich etwas Geringschätzendes, man pflegt darunter denjenigen zu
verstehn, der die fehlende Natur durch Kunst ersetzt, wobei man vergißt, daß
so etwas im eigentlichen Sinn gar nicht möglich ist. Ein denkender Künstler
^se vielmehr derjenige, der die Grenzen und den Umfang seiner Natur voll¬
kommen kennt, die ersteren nie übertritt, und die letzteren zur vollen und
harmonischen Geltung bringt. Ein denkender Künstler ist ferner derjenige, der
ernsthaft in die Intentionen des Dichters eindringt und uns nicht blos die
Stimmungen, sondern auch den Geist derselben zur Evidenz bringt.

U.in nun aber diese allgemeinen Sätze, die für sich betrachtet etwas Ab-
stractes und daher Undeutliches haben, an einem bestimmten Beispiel zu er¬
läutern, wählen wir die Rolle der Julia. Der zweite Theil der Rolle, der in
seiner Tendenz klar genug ist, wird von unsern bessern Schauspielerinnen durch¬
weg mehr oder minder gut wiedergegeben; von dem ersten Theil haben wir
aber jetzt zum ersten Mal eine ergreifende Anschauung gehabt. Es kommt hier dar¬
auf an. dem Zuschauer die plötzliche alle Schranken überfliegende Leidenschaft der
^ulla zu erklären d. h. in sinnlicher Klarheit darzustellen. Man kann sagen, daß
Shakespeare in dieser Beziehung der Darstellerin wenig oder gar nicht vorgearbei-
^ hat, und so poetisch die erste Scene sich liest, so hat sie uns bei der Aufführung
urinier nur sehr wenig bewegt. Bei Marie Seebach sühlt man, wie der erste Kuß
^ ganzes Wesen im Innersten durchschauert, wie sie in der Mischung von


sie verfügen kann. Stellt man sie z. B. mit einer Rachel zusammen, so
steht sie dieser in mancher Beziehung nach, ihr sinniges und seelenvolles Auge
hat nicht jene dämonische Kraft, die uns aus dem dunklen Auge der Rachel
entgegenblitzte und uns gewissermaßen den Glauben an das Entsetzlichste
ohne Anstrengung einjagte: der Versuch, mit einem bloßen Blicke eine gewal¬
tige Herzensbewegung zu erzählen, wird von ihr nur mit äußerster Vorsicht
gewagt werden dürfen. Ebenso ist es mit der Stimme. In dem tiefen Alt
der Rachel hörte man schon von fern den Donner der innern Leidenschaften
grollen, und wenn sie ihnen den Zügel ließ, so war kein Widerstand möglich;
die ganze Erscheinung war ein Dämon geworden. Alle diese Naturwirkungen,
die freilich einen außerordentlichen Zauber ausüben, darf unsere Künstlerin
nur behutsam versuchen: es muß ihr, wenn wir uns so ausdrücken dürsen,
wehr daran liegen den Zuschauer zu überzeugen als ihn zu überraschen. Wenn
also auch nicht die ganze Zeit einer gedankenvollen Ausfassung der Kunst zu¬
strebte, so würde unsere Künstlerin durch die Eigenthümlichkeit ihrer Natur¬
anlagen dazu veranlaßt werden, ihren genialen Instinkt durch das Nachdenken
Zu leiten.

Hier muß auf ein Mißverständniß aufmerksam gemacht werden, das uns
leicht begegnet, wenn wir die entgegengesetzten Pole, die aber zu einem Wesen
gehören, von einander trennen. Die Bezeichnung eines denkenden Künstlers
hat gewöhnlich etwas Geringschätzendes, man pflegt darunter denjenigen zu
verstehn, der die fehlende Natur durch Kunst ersetzt, wobei man vergißt, daß
so etwas im eigentlichen Sinn gar nicht möglich ist. Ein denkender Künstler
^se vielmehr derjenige, der die Grenzen und den Umfang seiner Natur voll¬
kommen kennt, die ersteren nie übertritt, und die letzteren zur vollen und
harmonischen Geltung bringt. Ein denkender Künstler ist ferner derjenige, der
ernsthaft in die Intentionen des Dichters eindringt und uns nicht blos die
Stimmungen, sondern auch den Geist derselben zur Evidenz bringt.

U.in nun aber diese allgemeinen Sätze, die für sich betrachtet etwas Ab-
stractes und daher Undeutliches haben, an einem bestimmten Beispiel zu er¬
läutern, wählen wir die Rolle der Julia. Der zweite Theil der Rolle, der in
seiner Tendenz klar genug ist, wird von unsern bessern Schauspielerinnen durch¬
weg mehr oder minder gut wiedergegeben; von dem ersten Theil haben wir
aber jetzt zum ersten Mal eine ergreifende Anschauung gehabt. Es kommt hier dar¬
auf an. dem Zuschauer die plötzliche alle Schranken überfliegende Leidenschaft der
^ulla zu erklären d. h. in sinnlicher Klarheit darzustellen. Man kann sagen, daß
Shakespeare in dieser Beziehung der Darstellerin wenig oder gar nicht vorgearbei-
^ hat, und so poetisch die erste Scene sich liest, so hat sie uns bei der Aufführung
urinier nur sehr wenig bewegt. Bei Marie Seebach sühlt man, wie der erste Kuß
^ ganzes Wesen im Innersten durchschauert, wie sie in der Mischung von


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/81>, abgerufen am 22.07.2024.