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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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Nebelbild dieses Ausdrucks sich ihrer Phantasie sofort in die Gestalten der
bekannten Freunde zerlegt, die aus dem Dunkel auftauchen. Diese Macht der
Individualisirung führt zu einer Art von Gedichten, in denen Annette fast ganz
allein steht, und die wir zu den schönsten Leistungen unserer Poesie rechnen
möchten. -- Dazu gehört in erster Reihe der Cyclus: "Des alten Pfarrers
Woche" (I. S. 234). Das Tagewerk dieses würdigen Mannes -- es ist na¬
türlich von einem katholischen Pfarrer die Rede -- ist in einer Mischung von
Humor und Gefühl dargestellt, die halb an Boß. halb an Goldsmith erinnert,
und doch unabhängig von beiden dasteht: ein wunderschönes Bild, in den
kräftigsten Farben und einer rührenden Stimmung. Ebenbürtig ist "der ster¬
bende General" II. 78: man weiß nicht, wo die Frau diesen ernsten, tief
männlichen Ton gefunden hat. "Junge Liebe" I, 128 hat wenigstens einen
überraschend schönen Einfall: das junge Mädchen, das sich kasuistisch die Frage
vorlegt, was sie thun würde, wenn Mama und der Liebste zugleich in Feuers¬
not!) wären, und zu dem Resultat kommt: "retten würd' ich Mama, und zu
Karl in die Flamme springen!" Als vortreffliche Dichtungen derselben Art
sind noch anzuzeichnen- "Das vierzehnjährige Herz" I. S. 130; "Der Brief ans
der Heimath" S. 134; "Ein braver Mann" S. 136; "Die junge Mutter"
S. 182; "8it Mi dei'iÄ leviL!" S. 195; "Die beschränkte Frau." die immer
die Redensart "in Gottes Namen" gebraucht S. 228, von innigstem
Ton; "Die Stnbcnburschen" S. 228 (in der Weise des alten Pfarrers), und
"die Linde" II. S. 40. Es ist in allen diesen Liedern eine Tiefe des Ge-
müths und eine Wahrheit der Seelenbeweguug. die uns um so freudiger
überrascht, wenn wir aus der schwülen Gespcnsterluft heraustreten und unter
Gottes freiem Himmel frisch aufathme". Dies ist der echte Realismus, den
die Sonne bescheint; unten bei den Larven ist doch nur die Lüge des Da¬
seins

Resultat: Annette steht, was das Talent der Farbe und Stimmung be¬
trifft, unter den neuesten Dichtern in erster Reihe. Ihre Bildung ist freier-
ihr Gefühl stärker als das der meisten. Sie hat in einigen Gedichten das
schönste Ziel erreicht, das ein Poet sich sehen kann, und kleine Unvollkommen-
heiten der Form, zu hastige Farbe, zu starke Sprünge u. s. w. nehmen sich
gern in den Kauf; sie ist interessant fast durchweg; aber sie hat in den mei¬
sten Gedichten ihre schöne Gabe auf eine Weise gemißbraucht, die Schrecken
erregt. Wenn man das psychologisch aus ihrer Krankheit erklärt, so läßt sich
dagegen nichts einwenden, es ist nur die Rede von dem objectiven Werth
der Dichtungen.

Ueber das Räthsel ihres innern Lebens findet man nur einige dunkle
Andeutungen. Auf einzelnes ist bereits hingewiesen; anderes läßt sich aus
dem Wenigen errathen, was von ihrem äußern Leben bekannt ist. Nur noch


Nebelbild dieses Ausdrucks sich ihrer Phantasie sofort in die Gestalten der
bekannten Freunde zerlegt, die aus dem Dunkel auftauchen. Diese Macht der
Individualisirung führt zu einer Art von Gedichten, in denen Annette fast ganz
allein steht, und die wir zu den schönsten Leistungen unserer Poesie rechnen
möchten. — Dazu gehört in erster Reihe der Cyclus: „Des alten Pfarrers
Woche" (I. S. 234). Das Tagewerk dieses würdigen Mannes — es ist na¬
türlich von einem katholischen Pfarrer die Rede — ist in einer Mischung von
Humor und Gefühl dargestellt, die halb an Boß. halb an Goldsmith erinnert,
und doch unabhängig von beiden dasteht: ein wunderschönes Bild, in den
kräftigsten Farben und einer rührenden Stimmung. Ebenbürtig ist „der ster¬
bende General" II. 78: man weiß nicht, wo die Frau diesen ernsten, tief
männlichen Ton gefunden hat. „Junge Liebe" I, 128 hat wenigstens einen
überraschend schönen Einfall: das junge Mädchen, das sich kasuistisch die Frage
vorlegt, was sie thun würde, wenn Mama und der Liebste zugleich in Feuers¬
not!) wären, und zu dem Resultat kommt: „retten würd' ich Mama, und zu
Karl in die Flamme springen!" Als vortreffliche Dichtungen derselben Art
sind noch anzuzeichnen- „Das vierzehnjährige Herz" I. S. 130; „Der Brief ans
der Heimath" S. 134; „Ein braver Mann" S. 136; „Die junge Mutter"
S. 182; „8it Mi dei'iÄ leviL!« S. 195; „Die beschränkte Frau." die immer
die Redensart „in Gottes Namen" gebraucht S. 228, von innigstem
Ton; „Die Stnbcnburschen" S. 228 (in der Weise des alten Pfarrers), und
„die Linde" II. S. 40. Es ist in allen diesen Liedern eine Tiefe des Ge-
müths und eine Wahrheit der Seelenbeweguug. die uns um so freudiger
überrascht, wenn wir aus der schwülen Gespcnsterluft heraustreten und unter
Gottes freiem Himmel frisch aufathme». Dies ist der echte Realismus, den
die Sonne bescheint; unten bei den Larven ist doch nur die Lüge des Da¬
seins

Resultat: Annette steht, was das Talent der Farbe und Stimmung be¬
trifft, unter den neuesten Dichtern in erster Reihe. Ihre Bildung ist freier-
ihr Gefühl stärker als das der meisten. Sie hat in einigen Gedichten das
schönste Ziel erreicht, das ein Poet sich sehen kann, und kleine Unvollkommen-
heiten der Form, zu hastige Farbe, zu starke Sprünge u. s. w. nehmen sich
gern in den Kauf; sie ist interessant fast durchweg; aber sie hat in den mei¬
sten Gedichten ihre schöne Gabe auf eine Weise gemißbraucht, die Schrecken
erregt. Wenn man das psychologisch aus ihrer Krankheit erklärt, so läßt sich
dagegen nichts einwenden, es ist nur die Rede von dem objectiven Werth
der Dichtungen.

Ueber das Räthsel ihres innern Lebens findet man nur einige dunkle
Andeutungen. Auf einzelnes ist bereits hingewiesen; anderes läßt sich aus
dem Wenigen errathen, was von ihrem äußern Leben bekannt ist. Nur noch


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[0466] Nebelbild dieses Ausdrucks sich ihrer Phantasie sofort in die Gestalten der bekannten Freunde zerlegt, die aus dem Dunkel auftauchen. Diese Macht der Individualisirung führt zu einer Art von Gedichten, in denen Annette fast ganz allein steht, und die wir zu den schönsten Leistungen unserer Poesie rechnen möchten. — Dazu gehört in erster Reihe der Cyclus: „Des alten Pfarrers Woche" (I. S. 234). Das Tagewerk dieses würdigen Mannes — es ist na¬ türlich von einem katholischen Pfarrer die Rede — ist in einer Mischung von Humor und Gefühl dargestellt, die halb an Boß. halb an Goldsmith erinnert, und doch unabhängig von beiden dasteht: ein wunderschönes Bild, in den kräftigsten Farben und einer rührenden Stimmung. Ebenbürtig ist „der ster¬ bende General" II. 78: man weiß nicht, wo die Frau diesen ernsten, tief männlichen Ton gefunden hat. „Junge Liebe" I, 128 hat wenigstens einen überraschend schönen Einfall: das junge Mädchen, das sich kasuistisch die Frage vorlegt, was sie thun würde, wenn Mama und der Liebste zugleich in Feuers¬ not!) wären, und zu dem Resultat kommt: „retten würd' ich Mama, und zu Karl in die Flamme springen!" Als vortreffliche Dichtungen derselben Art sind noch anzuzeichnen- „Das vierzehnjährige Herz" I. S. 130; „Der Brief ans der Heimath" S. 134; „Ein braver Mann" S. 136; „Die junge Mutter" S. 182; „8it Mi dei'iÄ leviL!« S. 195; „Die beschränkte Frau." die immer die Redensart „in Gottes Namen" gebraucht S. 228, von innigstem Ton; „Die Stnbcnburschen" S. 228 (in der Weise des alten Pfarrers), und „die Linde" II. S. 40. Es ist in allen diesen Liedern eine Tiefe des Ge- müths und eine Wahrheit der Seelenbeweguug. die uns um so freudiger überrascht, wenn wir aus der schwülen Gespcnsterluft heraustreten und unter Gottes freiem Himmel frisch aufathme». Dies ist der echte Realismus, den die Sonne bescheint; unten bei den Larven ist doch nur die Lüge des Da¬ seins Resultat: Annette steht, was das Talent der Farbe und Stimmung be¬ trifft, unter den neuesten Dichtern in erster Reihe. Ihre Bildung ist freier- ihr Gefühl stärker als das der meisten. Sie hat in einigen Gedichten das schönste Ziel erreicht, das ein Poet sich sehen kann, und kleine Unvollkommen- heiten der Form, zu hastige Farbe, zu starke Sprünge u. s. w. nehmen sich gern in den Kauf; sie ist interessant fast durchweg; aber sie hat in den mei¬ sten Gedichten ihre schöne Gabe auf eine Weise gemißbraucht, die Schrecken erregt. Wenn man das psychologisch aus ihrer Krankheit erklärt, so läßt sich dagegen nichts einwenden, es ist nur die Rede von dem objectiven Werth der Dichtungen. Ueber das Räthsel ihres innern Lebens findet man nur einige dunkle Andeutungen. Auf einzelnes ist bereits hingewiesen; anderes läßt sich aus dem Wenigen errathen, was von ihrem äußern Leben bekannt ist. Nur noch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/466>, abgerufen am 26.06.2024.