Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

kann ich nicht haltbar finden. Dem Publikum konnten sie in seinem Urtheil
(s. 2013) nicht zu Hilfe kommen, da sie nicht sachliche Urtheile, sondern per¬
sönliche, freilich mitunter sehr gelungene Invektiven enthielten; sie gingen nicht
aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Rache hervor, und einzelne, z. B. die
gegen Reichhardt. der unter Andern "ein giftiges Insekt" genannt wird, ma¬
chen die Amel-Xenien sehr begreiflich. Es wird immer wiederholt, daß sie.
wie ein Gewitter, den Dunstkreis aufgeklärt hätten, bis jetzt hat aber noch
Niemand gesagt, worin ihre gute Wirkung bestand. Daß Goethe und Schiller
selbst nach der Zeit ihre besten Werke schufen, war doch nicht etwa Folge
der Xenien. Und wen sie sonst gefördert oder belehrt haben sollen, wüßte
ich nicht zu sagen, während die üblen Wirkungen handgreiflich sind. Mit
Ausnahme der unmittelbarsten Anhänger Goethe's und Schiller's war damals
das verdammende Urtheil allgemein; Schiller selbst hat auch sehr viel Aerger
davon gehabt, und Goethe, der die Sache humoristischer auffaßte, faßte sie
eben humoristisch auf. Wir Neuern können uns an mancher gelungenen geist¬
reichen Wendung dieser Xenien freuen, ohne deshalb in dem Ausfluß einer
übermüthigen momentanen Laune eine neue Reformation zu sehen. Ich möchte
die Xenien von einer andern Seite betrachten: sie waren der letzte Ausfluß
jener alten klassischen Auflehnung gegen das Zeitalter bei Goethe und Schiller,
auf welchen nun die wahrhaft nationalen Dichtungen folgten, die den erwar¬
teten Erfolg hatten und deshalb auch den beiden Dichtern, namentlich Schiller,
eine bessere Meinung vom Publikum beibrachten. -- Mit Recht bemerkt Ko¬
berstein (S. 2007), daß Schiller keine Veranlassung hatte, Fr. Schlegel wegen
seines unrichtigen Verständnisses des Griechischen zu selkiren; wenn er diese
Jahre aber Schlegels beste Zeit nennt, so kann sich das nicht auf die philo¬
logische Kenntniß desselben beziehen, da Fr. Schlegel wirklich erst bei Herr¬
mann Stunden im Griechischen nahm, nachdem er seine ersten Versuche über
die Griechen veröffentlicht. -- S. 2004 wird von Stollberg in seiner Ent¬
gegnung auf die Götter Griechenlands bemerkt: "Er sprach es unumwunden
aus, der Poesie letzter Zweck sei nicht sie selbst." Dazu macht Koberstein ein
Ausrufungszeichen; aber ich dächte, die Sache wäre richtig und Koberstein
müßte es nach seinem ersten Ausrufungszeichen selber so finden. Die Poesie
ist für diejenigen, die sie genießen, und diese werden nur dann wahrhaft be¬
wegt werden, wenn sie menschliche Wahrheit hören, und dadurch werden sie
zugleich geläutert, oder wenn man den trivialen Ausdruck gebrauchen will,
gebessert; freilich nicht in der Weise gebessert, wie man in der Predigt oder
etwa im Arbeitshause gebessert wird. In diesem speciellen Fall war der rich-
tige Grundsatz allerdings sehr falsch angewandt, denn in Schillers angeblichen
Heidenthum lag viel mehr menschliche Wahrheit als in Stollbergs angeblichen


kann ich nicht haltbar finden. Dem Publikum konnten sie in seinem Urtheil
(s. 2013) nicht zu Hilfe kommen, da sie nicht sachliche Urtheile, sondern per¬
sönliche, freilich mitunter sehr gelungene Invektiven enthielten; sie gingen nicht
aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Rache hervor, und einzelne, z. B. die
gegen Reichhardt. der unter Andern „ein giftiges Insekt" genannt wird, ma¬
chen die Amel-Xenien sehr begreiflich. Es wird immer wiederholt, daß sie.
wie ein Gewitter, den Dunstkreis aufgeklärt hätten, bis jetzt hat aber noch
Niemand gesagt, worin ihre gute Wirkung bestand. Daß Goethe und Schiller
selbst nach der Zeit ihre besten Werke schufen, war doch nicht etwa Folge
der Xenien. Und wen sie sonst gefördert oder belehrt haben sollen, wüßte
ich nicht zu sagen, während die üblen Wirkungen handgreiflich sind. Mit
Ausnahme der unmittelbarsten Anhänger Goethe's und Schiller's war damals
das verdammende Urtheil allgemein; Schiller selbst hat auch sehr viel Aerger
davon gehabt, und Goethe, der die Sache humoristischer auffaßte, faßte sie
eben humoristisch auf. Wir Neuern können uns an mancher gelungenen geist¬
reichen Wendung dieser Xenien freuen, ohne deshalb in dem Ausfluß einer
übermüthigen momentanen Laune eine neue Reformation zu sehen. Ich möchte
die Xenien von einer andern Seite betrachten: sie waren der letzte Ausfluß
jener alten klassischen Auflehnung gegen das Zeitalter bei Goethe und Schiller,
auf welchen nun die wahrhaft nationalen Dichtungen folgten, die den erwar¬
teten Erfolg hatten und deshalb auch den beiden Dichtern, namentlich Schiller,
eine bessere Meinung vom Publikum beibrachten. — Mit Recht bemerkt Ko¬
berstein (S. 2007), daß Schiller keine Veranlassung hatte, Fr. Schlegel wegen
seines unrichtigen Verständnisses des Griechischen zu selkiren; wenn er diese
Jahre aber Schlegels beste Zeit nennt, so kann sich das nicht auf die philo¬
logische Kenntniß desselben beziehen, da Fr. Schlegel wirklich erst bei Herr¬
mann Stunden im Griechischen nahm, nachdem er seine ersten Versuche über
die Griechen veröffentlicht. — S. 2004 wird von Stollberg in seiner Ent¬
gegnung auf die Götter Griechenlands bemerkt: „Er sprach es unumwunden
aus, der Poesie letzter Zweck sei nicht sie selbst." Dazu macht Koberstein ein
Ausrufungszeichen; aber ich dächte, die Sache wäre richtig und Koberstein
müßte es nach seinem ersten Ausrufungszeichen selber so finden. Die Poesie
ist für diejenigen, die sie genießen, und diese werden nur dann wahrhaft be¬
wegt werden, wenn sie menschliche Wahrheit hören, und dadurch werden sie
zugleich geläutert, oder wenn man den trivialen Ausdruck gebrauchen will,
gebessert; freilich nicht in der Weise gebessert, wie man in der Predigt oder
etwa im Arbeitshause gebessert wird. In diesem speciellen Fall war der rich-
tige Grundsatz allerdings sehr falsch angewandt, denn in Schillers angeblichen
Heidenthum lag viel mehr menschliche Wahrheit als in Stollbergs angeblichen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0386" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/108516"/>
          <p xml:id="ID_1239" prev="#ID_1238" next="#ID_1240"> kann ich nicht haltbar finden.  Dem Publikum konnten sie in seinem Urtheil<lb/>
(s. 2013) nicht zu Hilfe kommen, da sie nicht sachliche Urtheile, sondern per¬<lb/>
sönliche, freilich mitunter sehr gelungene Invektiven enthielten; sie gingen nicht<lb/>
aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Rache hervor, und einzelne, z. B. die<lb/>
gegen Reichhardt. der unter Andern &#x201E;ein giftiges Insekt" genannt wird, ma¬<lb/>
chen die Amel-Xenien sehr begreiflich.  Es wird immer wiederholt, daß sie.<lb/>
wie ein Gewitter, den Dunstkreis aufgeklärt hätten, bis jetzt hat aber noch<lb/>
Niemand gesagt, worin ihre gute Wirkung bestand.  Daß Goethe und Schiller<lb/>
selbst nach der Zeit ihre besten Werke schufen, war doch nicht etwa Folge<lb/>
der Xenien.  Und wen sie sonst gefördert oder belehrt haben sollen, wüßte<lb/>
ich nicht zu sagen, während die üblen Wirkungen handgreiflich sind. Mit<lb/>
Ausnahme der unmittelbarsten Anhänger Goethe's und Schiller's war damals<lb/>
das verdammende Urtheil allgemein; Schiller selbst hat auch sehr viel Aerger<lb/>
davon gehabt, und Goethe, der die Sache humoristischer auffaßte, faßte sie<lb/>
eben humoristisch auf.  Wir Neuern können uns an mancher gelungenen geist¬<lb/>
reichen Wendung dieser Xenien freuen, ohne deshalb in dem Ausfluß einer<lb/>
übermüthigen momentanen Laune eine neue Reformation zu sehen. Ich möchte<lb/>
die Xenien von einer andern Seite betrachten: sie waren der letzte Ausfluß<lb/>
jener alten klassischen Auflehnung gegen das Zeitalter bei Goethe und Schiller,<lb/>
auf welchen nun die wahrhaft nationalen Dichtungen folgten, die den erwar¬<lb/>
teten Erfolg hatten und deshalb auch den beiden Dichtern, namentlich Schiller,<lb/>
eine bessere Meinung vom Publikum beibrachten. &#x2014; Mit Recht bemerkt Ko¬<lb/>
berstein (S. 2007), daß Schiller keine Veranlassung hatte, Fr. Schlegel wegen<lb/>
seines unrichtigen Verständnisses des Griechischen zu selkiren; wenn er diese<lb/>
Jahre aber Schlegels beste Zeit nennt, so kann sich das nicht auf die philo¬<lb/>
logische Kenntniß desselben beziehen, da Fr. Schlegel wirklich erst bei Herr¬<lb/>
mann Stunden im Griechischen nahm, nachdem er seine ersten Versuche über<lb/>
die Griechen veröffentlicht. &#x2014; S. 2004 wird von Stollberg in seiner Ent¬<lb/>
gegnung auf die Götter Griechenlands bemerkt: &#x201E;Er sprach es unumwunden<lb/>
aus, der Poesie letzter Zweck sei nicht sie selbst."  Dazu macht Koberstein ein<lb/>
Ausrufungszeichen; aber ich dächte, die Sache wäre richtig und Koberstein<lb/>
müßte es nach seinem ersten Ausrufungszeichen selber so finden.  Die Poesie<lb/>
ist für diejenigen, die sie genießen, und diese werden nur dann wahrhaft be¬<lb/>
wegt werden, wenn sie menschliche Wahrheit hören, und dadurch werden sie<lb/>
zugleich geläutert, oder wenn man den trivialen Ausdruck gebrauchen will,<lb/>
gebessert; freilich nicht in der Weise gebessert, wie man in der Predigt oder<lb/>
etwa im Arbeitshause gebessert wird.  In diesem speciellen Fall war der rich-<lb/>
tige Grundsatz allerdings sehr falsch angewandt, denn in Schillers angeblichen<lb/>
Heidenthum lag viel mehr menschliche Wahrheit als in Stollbergs angeblichen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0386] kann ich nicht haltbar finden. Dem Publikum konnten sie in seinem Urtheil (s. 2013) nicht zu Hilfe kommen, da sie nicht sachliche Urtheile, sondern per¬ sönliche, freilich mitunter sehr gelungene Invektiven enthielten; sie gingen nicht aus der Gerechtigkeit, sondern aus der Rache hervor, und einzelne, z. B. die gegen Reichhardt. der unter Andern „ein giftiges Insekt" genannt wird, ma¬ chen die Amel-Xenien sehr begreiflich. Es wird immer wiederholt, daß sie. wie ein Gewitter, den Dunstkreis aufgeklärt hätten, bis jetzt hat aber noch Niemand gesagt, worin ihre gute Wirkung bestand. Daß Goethe und Schiller selbst nach der Zeit ihre besten Werke schufen, war doch nicht etwa Folge der Xenien. Und wen sie sonst gefördert oder belehrt haben sollen, wüßte ich nicht zu sagen, während die üblen Wirkungen handgreiflich sind. Mit Ausnahme der unmittelbarsten Anhänger Goethe's und Schiller's war damals das verdammende Urtheil allgemein; Schiller selbst hat auch sehr viel Aerger davon gehabt, und Goethe, der die Sache humoristischer auffaßte, faßte sie eben humoristisch auf. Wir Neuern können uns an mancher gelungenen geist¬ reichen Wendung dieser Xenien freuen, ohne deshalb in dem Ausfluß einer übermüthigen momentanen Laune eine neue Reformation zu sehen. Ich möchte die Xenien von einer andern Seite betrachten: sie waren der letzte Ausfluß jener alten klassischen Auflehnung gegen das Zeitalter bei Goethe und Schiller, auf welchen nun die wahrhaft nationalen Dichtungen folgten, die den erwar¬ teten Erfolg hatten und deshalb auch den beiden Dichtern, namentlich Schiller, eine bessere Meinung vom Publikum beibrachten. — Mit Recht bemerkt Ko¬ berstein (S. 2007), daß Schiller keine Veranlassung hatte, Fr. Schlegel wegen seines unrichtigen Verständnisses des Griechischen zu selkiren; wenn er diese Jahre aber Schlegels beste Zeit nennt, so kann sich das nicht auf die philo¬ logische Kenntniß desselben beziehen, da Fr. Schlegel wirklich erst bei Herr¬ mann Stunden im Griechischen nahm, nachdem er seine ersten Versuche über die Griechen veröffentlicht. — S. 2004 wird von Stollberg in seiner Ent¬ gegnung auf die Götter Griechenlands bemerkt: „Er sprach es unumwunden aus, der Poesie letzter Zweck sei nicht sie selbst." Dazu macht Koberstein ein Ausrufungszeichen; aber ich dächte, die Sache wäre richtig und Koberstein müßte es nach seinem ersten Ausrufungszeichen selber so finden. Die Poesie ist für diejenigen, die sie genießen, und diese werden nur dann wahrhaft be¬ wegt werden, wenn sie menschliche Wahrheit hören, und dadurch werden sie zugleich geläutert, oder wenn man den trivialen Ausdruck gebrauchen will, gebessert; freilich nicht in der Weise gebessert, wie man in der Predigt oder etwa im Arbeitshause gebessert wird. In diesem speciellen Fall war der rich- tige Grundsatz allerdings sehr falsch angewandt, denn in Schillers angeblichen Heidenthum lag viel mehr menschliche Wahrheit als in Stollbergs angeblichen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/386
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/386>, abgerufen am 24.08.2024.