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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band.

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vollkommen begreifen, denn der Pietismus hatte das ganze Zeitalter vergiftet und
der bei weitem größere Theil der Literatur war empfindsam, weibisch und wei¬
nerlich. Am deutlichsten zeigt uns das der Einblick in die massenhaften Correspon-
denzen jener Tage, wo die Seele in einer Weise verhätschelt wird, die alle Kraft in
ihr erstickt. Aber indem Kant das Uebermaß der Empfindung bekämpfte, trug
er dem tiefen Bedürfniß des Herzens zu wenig Rechnung. Das religiöse Ge¬
fühlsleben hat seinen kräftigsten Ausdruck im Gebet, und die Art. wie sich
Kant in seiner Religionslehre über das Gebet ausspricht, ist von einer schnei¬
denden Härte. Gegen seine Gründe läßt sich nichts einwenden, aber er ver-
kenntden tiefern Sinn, der im Gebet liegt, und verschmäht es im Stolz seiner
starren Gesetzlichkeit, dieser Tiefe einen andern angemessenen Ausdruck zu geben.
Von dieser Seite haben zuerst Jakobi. dann aber namentlich Schleiermacher
mit Erfolg gegen ihn angekämpft, und wenn auch bei dem letztern (wir meinen
hauptsächlich seine Jugendschriften) die zerflossene, blos musikalische Sprache,
die Weichheit und selbst Gegcnstandlosigkeit der Empfindungen denjenigen ab¬
stößt, der an den kräftigen Knochenbau des Kantischen Stils gewöhnt ist,
so hat er doch in der Religion ein Gebiet entdeckt, welches das Kantische
System, welches der Rationalismus überhaupt nicht beachtet. Daß Schleier¬
macher auf diesem Gebiet alle Räthsel gelöst, alle Fragen beantwortet habe,
wird schwer zu behaupten sein, aber er hat die Aufmerksamkeit darauf hin¬
gelenkt, und das ist ein Verdienst, das später seine Früchte tragen wird. Fichte
gab sich die Mühe, auch dem Gefühl eine Befriedigung zu verschaffen, aber
er fand sie nur in der Form des Enthusiasmus, und dem größten Philosophen
wird es nicht gelingen, den Enthusiasmus als die bleibende Stimmung des
Menschen zu fixiren. Von den spätern speculativen Philosophen, von Schel-
ling und Hegel, ist nach dieser Seite hin wenig geleistet; im Gegentheil haben
sie durch ihre Bemühung, jede Lebensform als gleichberechtigt zu begreisen, die
Kraft des Gefühls in einer sehr bedenklichen Weise abgeschwächt.

Es ist charakteristisch für Kants Religion und, setzen wir hinzu, es liegt
im Wesen des Rationalismus, der Sektenbildung abhold zu sein. Während
Schleiermacher von einer stillen Gemeinde ausging und sich im Grunde nach
einer stillen Gemeinde zurücksehnte, war für Kant, so eifrig er das Pfaffe"'
thun bekämpfte, die Organisation einer Kirche, die als Reich Gottes allmälig
die ganze Menschheit einschließen sollte, das Hauptaugenmerk, wie er denn
überhaupt nicht darauf ausging das Individuum frei zu lassen, sondern es in
Zucht zu nehmen. Ueberhaupt ist der Rationalismus zwar ein Compronnß
streitender Gegensätze und deshalb zu einem energischen Auftreten nicht recht
geeignet, aber ihm liegt doch vielmehr daran was er vorbereitet, wirkt und
schafft, als was er unmittelbar gibt.et

Wenn das individuelle Gefühlsleben im Gebet seinen Mittelpunktfind


vollkommen begreifen, denn der Pietismus hatte das ganze Zeitalter vergiftet und
der bei weitem größere Theil der Literatur war empfindsam, weibisch und wei¬
nerlich. Am deutlichsten zeigt uns das der Einblick in die massenhaften Correspon-
denzen jener Tage, wo die Seele in einer Weise verhätschelt wird, die alle Kraft in
ihr erstickt. Aber indem Kant das Uebermaß der Empfindung bekämpfte, trug
er dem tiefen Bedürfniß des Herzens zu wenig Rechnung. Das religiöse Ge¬
fühlsleben hat seinen kräftigsten Ausdruck im Gebet, und die Art. wie sich
Kant in seiner Religionslehre über das Gebet ausspricht, ist von einer schnei¬
denden Härte. Gegen seine Gründe läßt sich nichts einwenden, aber er ver-
kenntden tiefern Sinn, der im Gebet liegt, und verschmäht es im Stolz seiner
starren Gesetzlichkeit, dieser Tiefe einen andern angemessenen Ausdruck zu geben.
Von dieser Seite haben zuerst Jakobi. dann aber namentlich Schleiermacher
mit Erfolg gegen ihn angekämpft, und wenn auch bei dem letztern (wir meinen
hauptsächlich seine Jugendschriften) die zerflossene, blos musikalische Sprache,
die Weichheit und selbst Gegcnstandlosigkeit der Empfindungen denjenigen ab¬
stößt, der an den kräftigen Knochenbau des Kantischen Stils gewöhnt ist,
so hat er doch in der Religion ein Gebiet entdeckt, welches das Kantische
System, welches der Rationalismus überhaupt nicht beachtet. Daß Schleier¬
macher auf diesem Gebiet alle Räthsel gelöst, alle Fragen beantwortet habe,
wird schwer zu behaupten sein, aber er hat die Aufmerksamkeit darauf hin¬
gelenkt, und das ist ein Verdienst, das später seine Früchte tragen wird. Fichte
gab sich die Mühe, auch dem Gefühl eine Befriedigung zu verschaffen, aber
er fand sie nur in der Form des Enthusiasmus, und dem größten Philosophen
wird es nicht gelingen, den Enthusiasmus als die bleibende Stimmung des
Menschen zu fixiren. Von den spätern speculativen Philosophen, von Schel-
ling und Hegel, ist nach dieser Seite hin wenig geleistet; im Gegentheil haben
sie durch ihre Bemühung, jede Lebensform als gleichberechtigt zu begreisen, die
Kraft des Gefühls in einer sehr bedenklichen Weise abgeschwächt.

Es ist charakteristisch für Kants Religion und, setzen wir hinzu, es liegt
im Wesen des Rationalismus, der Sektenbildung abhold zu sein. Während
Schleiermacher von einer stillen Gemeinde ausging und sich im Grunde nach
einer stillen Gemeinde zurücksehnte, war für Kant, so eifrig er das Pfaffe"'
thun bekämpfte, die Organisation einer Kirche, die als Reich Gottes allmälig
die ganze Menschheit einschließen sollte, das Hauptaugenmerk, wie er denn
überhaupt nicht darauf ausging das Individuum frei zu lassen, sondern es in
Zucht zu nehmen. Ueberhaupt ist der Rationalismus zwar ein Compronnß
streitender Gegensätze und deshalb zu einem energischen Auftreten nicht recht
geeignet, aber ihm liegt doch vielmehr daran was er vorbereitet, wirkt und
schafft, als was er unmittelbar gibt.et

Wenn das individuelle Gefühlsleben im Gebet seinen Mittelpunktfind


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_108129/146>, abgerufen am 26.08.2024.