Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Ausgewachsen in der Methode und den Kategorien des kritischen Idealismus,
wendet er in der Ueberzeugung von der Uebereinstimmung des Geistes mit der
Natur dieselbe ohne weiteres auf das Naturgebiet an. wo sie mitunter einen
ganz entgegengesetzten Sinn annehmen. Selbst der Mathematiker prüft doch
erst, wenn er seine ursprünglichen Begriffe aus ein höheres Gebiet der Ma¬
thematik anwenden will, ob sie auch allen Anforderungen desselben entsprechen.
Aus dieser halb phantastischen, halb scholastischen Combination von Bildern,
Gesetzen und Hypothesen kann natürlich kein wissenschaftliches Ganze hervor¬
gehn; aber es kann nicht blos den Laien blenden, sondern sür den Augenblick
auch den eigentlichen Gelehrten, der sich denn doch der allgemeinen Gährung
nicht ganz entzieht.

Das Geheimniß der Natur besteht nach Schelling darin, daß .sie entgegen¬
gesetzte Kräfte im Gleichgewicht erhält. Aber wo ist das Mittelglied, das
allein alle diese Verwandtschaften unter sich bildet? woher diese Einheit im
Gegensatz? -- Diese Frage ist ein Problem, das wir ins Unendliche fort auf¬
zulösen streben müssen, aber niemals wirklich auflösen werden. Darin liegt
das Geheimniß unserer geistigen Thätigkeit, daß wir genöthigt sind, uns ins
Unendliche fort einem Punkt anzunähern, der ins Unendliche sort jeder Be¬
stimmung entflieht, sich immer weiter entfernt, je näher wir ihm zu kommen
suchen.

Bei der großen Schnelligkeit seines Denkens kam aber Schelling bald
dazu, dies Princip wirklich aufzustellen, es geschah in dem Buch: Von der
Weltseele, welches, noch in Leipzig geschrieben. 17W erschien: "eine Hypo¬
these der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus."

"Der ursprüngliche Gegensatz, in welchem der Keim einer allgemeinen
Weltorganisation liegt, ist keiner empirischen, sondern nur einer transcenden¬
talen Ableitung sähig. Ihr Ursprung ist in der ursprünglichen Duplicität
unsers Geistes zu suchen (Ich -- Nicht-Ich), der nur aus entgegengesetzten
Thätigkeiten ein endliches Product construirt." -- Mit andern Worten: die
Methode, nach welcher die Wissenschaftslehre den Proceß des Denkens ana-
lysirt, wird auf das allgemeine Naturleben angewandt. Für den Proceß des
Denkens kam aus dem fortwährenden Ueberspringen des Ich ins Nicht-Ich
nichts heraus; dem wird auf dem Gebiet der Natur dadurch abgeholfen, daß
in jenes Register die empirisch empfangenen Gesetze oder die daran sich knü¬
pfenden Hypothesen eingeschwärzt werden. -- In dieser Methode ist nicht blos
der ganze Schelling, sondern bereits der ganze Hegel.

"Die Betrachtung sowol der allgemeinen Naturveränderungen, als des
Fortgangs und Bestandes der organischen Welt führt den Naturforscher auf
ein gemeinschaftliches Princip, das zwischen anorganischer und organischer
Natur fluctuirend die erste Ursache aller Veränderungen in jener und den letz-


Ausgewachsen in der Methode und den Kategorien des kritischen Idealismus,
wendet er in der Ueberzeugung von der Uebereinstimmung des Geistes mit der
Natur dieselbe ohne weiteres auf das Naturgebiet an. wo sie mitunter einen
ganz entgegengesetzten Sinn annehmen. Selbst der Mathematiker prüft doch
erst, wenn er seine ursprünglichen Begriffe aus ein höheres Gebiet der Ma¬
thematik anwenden will, ob sie auch allen Anforderungen desselben entsprechen.
Aus dieser halb phantastischen, halb scholastischen Combination von Bildern,
Gesetzen und Hypothesen kann natürlich kein wissenschaftliches Ganze hervor¬
gehn; aber es kann nicht blos den Laien blenden, sondern sür den Augenblick
auch den eigentlichen Gelehrten, der sich denn doch der allgemeinen Gährung
nicht ganz entzieht.

Das Geheimniß der Natur besteht nach Schelling darin, daß .sie entgegen¬
gesetzte Kräfte im Gleichgewicht erhält. Aber wo ist das Mittelglied, das
allein alle diese Verwandtschaften unter sich bildet? woher diese Einheit im
Gegensatz? — Diese Frage ist ein Problem, das wir ins Unendliche fort auf¬
zulösen streben müssen, aber niemals wirklich auflösen werden. Darin liegt
das Geheimniß unserer geistigen Thätigkeit, daß wir genöthigt sind, uns ins
Unendliche fort einem Punkt anzunähern, der ins Unendliche sort jeder Be¬
stimmung entflieht, sich immer weiter entfernt, je näher wir ihm zu kommen
suchen.

Bei der großen Schnelligkeit seines Denkens kam aber Schelling bald
dazu, dies Princip wirklich aufzustellen, es geschah in dem Buch: Von der
Weltseele, welches, noch in Leipzig geschrieben. 17W erschien: „eine Hypo¬
these der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus."

„Der ursprüngliche Gegensatz, in welchem der Keim einer allgemeinen
Weltorganisation liegt, ist keiner empirischen, sondern nur einer transcenden¬
talen Ableitung sähig. Ihr Ursprung ist in der ursprünglichen Duplicität
unsers Geistes zu suchen (Ich — Nicht-Ich), der nur aus entgegengesetzten
Thätigkeiten ein endliches Product construirt." — Mit andern Worten: die
Methode, nach welcher die Wissenschaftslehre den Proceß des Denkens ana-
lysirt, wird auf das allgemeine Naturleben angewandt. Für den Proceß des
Denkens kam aus dem fortwährenden Ueberspringen des Ich ins Nicht-Ich
nichts heraus; dem wird auf dem Gebiet der Natur dadurch abgeholfen, daß
in jenes Register die empirisch empfangenen Gesetze oder die daran sich knü¬
pfenden Hypothesen eingeschwärzt werden. — In dieser Methode ist nicht blos
der ganze Schelling, sondern bereits der ganze Hegel.

„Die Betrachtung sowol der allgemeinen Naturveränderungen, als des
Fortgangs und Bestandes der organischen Welt führt den Naturforscher auf
ein gemeinschaftliches Princip, das zwischen anorganischer und organischer
Natur fluctuirend die erste Ursache aller Veränderungen in jener und den letz-


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0065" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107651"/>
          <p xml:id="ID_189" prev="#ID_188"> Ausgewachsen in der Methode und den Kategorien des kritischen Idealismus,<lb/>
wendet er in der Ueberzeugung von der Uebereinstimmung des Geistes mit der<lb/>
Natur dieselbe ohne weiteres auf das Naturgebiet an. wo sie mitunter einen<lb/>
ganz entgegengesetzten Sinn annehmen.  Selbst der Mathematiker prüft doch<lb/>
erst, wenn er seine ursprünglichen Begriffe aus ein höheres Gebiet der Ma¬<lb/>
thematik anwenden will, ob sie auch allen Anforderungen desselben entsprechen.<lb/>
Aus dieser halb phantastischen, halb scholastischen Combination von Bildern,<lb/>
Gesetzen und Hypothesen kann natürlich kein wissenschaftliches Ganze hervor¬<lb/>
gehn; aber es kann nicht blos den Laien blenden, sondern sür den Augenblick<lb/>
auch den eigentlichen Gelehrten, der sich denn doch der allgemeinen Gährung<lb/>
nicht ganz entzieht.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_190"> Das Geheimniß der Natur besteht nach Schelling darin, daß .sie entgegen¬<lb/>
gesetzte Kräfte im Gleichgewicht erhält. Aber wo ist das Mittelglied, das<lb/>
allein alle diese Verwandtschaften unter sich bildet? woher diese Einheit im<lb/>
Gegensatz? &#x2014; Diese Frage ist ein Problem, das wir ins Unendliche fort auf¬<lb/>
zulösen streben müssen, aber niemals wirklich auflösen werden. Darin liegt<lb/>
das Geheimniß unserer geistigen Thätigkeit, daß wir genöthigt sind, uns ins<lb/>
Unendliche fort einem Punkt anzunähern, der ins Unendliche sort jeder Be¬<lb/>
stimmung entflieht, sich immer weiter entfernt, je näher wir ihm zu kommen<lb/>
suchen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_191"> Bei der großen Schnelligkeit seines Denkens kam aber Schelling bald<lb/>
dazu, dies Princip wirklich aufzustellen, es geschah in dem Buch: Von der<lb/>
Weltseele, welches, noch in Leipzig geschrieben. 17W erschien: &#x201E;eine Hypo¬<lb/>
these der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus."</p><lb/>
          <p xml:id="ID_192"> &#x201E;Der ursprüngliche Gegensatz, in welchem der Keim einer allgemeinen<lb/>
Weltorganisation liegt, ist keiner empirischen, sondern nur einer transcenden¬<lb/>
talen Ableitung sähig.  Ihr Ursprung ist in der ursprünglichen Duplicität<lb/>
unsers Geistes zu suchen (Ich &#x2014; Nicht-Ich), der nur aus entgegengesetzten<lb/>
Thätigkeiten ein endliches Product construirt." &#x2014; Mit andern Worten: die<lb/>
Methode, nach welcher die Wissenschaftslehre den Proceß des Denkens ana-<lb/>
lysirt, wird auf das allgemeine Naturleben angewandt. Für den Proceß des<lb/>
Denkens kam aus dem fortwährenden Ueberspringen des Ich ins Nicht-Ich<lb/>
nichts heraus; dem wird auf dem Gebiet der Natur dadurch abgeholfen, daß<lb/>
in jenes Register die empirisch empfangenen Gesetze oder die daran sich knü¬<lb/>
pfenden Hypothesen eingeschwärzt werden. &#x2014; In dieser Methode ist nicht blos<lb/>
der ganze Schelling, sondern bereits der ganze Hegel.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_193" next="#ID_194"> &#x201E;Die Betrachtung sowol der allgemeinen Naturveränderungen, als des<lb/>
Fortgangs und Bestandes der organischen Welt führt den Naturforscher auf<lb/>
ein gemeinschaftliches Princip, das zwischen anorganischer und organischer<lb/>
Natur fluctuirend die erste Ursache aller Veränderungen in jener und den letz-</p><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0065] Ausgewachsen in der Methode und den Kategorien des kritischen Idealismus, wendet er in der Ueberzeugung von der Uebereinstimmung des Geistes mit der Natur dieselbe ohne weiteres auf das Naturgebiet an. wo sie mitunter einen ganz entgegengesetzten Sinn annehmen. Selbst der Mathematiker prüft doch erst, wenn er seine ursprünglichen Begriffe aus ein höheres Gebiet der Ma¬ thematik anwenden will, ob sie auch allen Anforderungen desselben entsprechen. Aus dieser halb phantastischen, halb scholastischen Combination von Bildern, Gesetzen und Hypothesen kann natürlich kein wissenschaftliches Ganze hervor¬ gehn; aber es kann nicht blos den Laien blenden, sondern sür den Augenblick auch den eigentlichen Gelehrten, der sich denn doch der allgemeinen Gährung nicht ganz entzieht. Das Geheimniß der Natur besteht nach Schelling darin, daß .sie entgegen¬ gesetzte Kräfte im Gleichgewicht erhält. Aber wo ist das Mittelglied, das allein alle diese Verwandtschaften unter sich bildet? woher diese Einheit im Gegensatz? — Diese Frage ist ein Problem, das wir ins Unendliche fort auf¬ zulösen streben müssen, aber niemals wirklich auflösen werden. Darin liegt das Geheimniß unserer geistigen Thätigkeit, daß wir genöthigt sind, uns ins Unendliche fort einem Punkt anzunähern, der ins Unendliche sort jeder Be¬ stimmung entflieht, sich immer weiter entfernt, je näher wir ihm zu kommen suchen. Bei der großen Schnelligkeit seines Denkens kam aber Schelling bald dazu, dies Princip wirklich aufzustellen, es geschah in dem Buch: Von der Weltseele, welches, noch in Leipzig geschrieben. 17W erschien: „eine Hypo¬ these der höhern Physik zur Erklärung des allgemeinen Organismus." „Der ursprüngliche Gegensatz, in welchem der Keim einer allgemeinen Weltorganisation liegt, ist keiner empirischen, sondern nur einer transcenden¬ talen Ableitung sähig. Ihr Ursprung ist in der ursprünglichen Duplicität unsers Geistes zu suchen (Ich — Nicht-Ich), der nur aus entgegengesetzten Thätigkeiten ein endliches Product construirt." — Mit andern Worten: die Methode, nach welcher die Wissenschaftslehre den Proceß des Denkens ana- lysirt, wird auf das allgemeine Naturleben angewandt. Für den Proceß des Denkens kam aus dem fortwährenden Ueberspringen des Ich ins Nicht-Ich nichts heraus; dem wird auf dem Gebiet der Natur dadurch abgeholfen, daß in jenes Register die empirisch empfangenen Gesetze oder die daran sich knü¬ pfenden Hypothesen eingeschwärzt werden. — In dieser Methode ist nicht blos der ganze Schelling, sondern bereits der ganze Hegel. „Die Betrachtung sowol der allgemeinen Naturveränderungen, als des Fortgangs und Bestandes der organischen Welt führt den Naturforscher auf ein gemeinschaftliches Princip, das zwischen anorganischer und organischer Natur fluctuirend die erste Ursache aller Veränderungen in jener und den letz-

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/65
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/65>, abgerufen am 28.12.2024.