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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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Bedeutendes und Individuelles an Motiv- und Themenbildungen, und das
Ganze trotz fortwährender Hitze einer nichts weniger wie kirchlichen Leiden¬
schaftlichkeit, eine träge Physiognomie. Was von Motiven irgendwie sich
heraushebt, liegt im Orchester, lenkt sonnt die ganze Auftnerksamkeit auf
das Instrumentale, und drückt den Chor völlig in eine untergeordnete Rolle
als Harmonienusfüllung herab, und eine solche widernatürliche Verwendung
rächt sich von selbst durch Wirkungslosigteit. Von der Bedeutsamkeit eines
Gcsmigchores fehlt in solchem Fall jeder Begriff; hier ist eine bleierne Masse,
während im polyphonen Chor jede Chorstimme als ideale Person ihren festen
Gang behauptet, und doch alle zusammen als Ausdruck einer idealen Allgemeinheit
in ein zusammenklingendes Ganzes aufgehen; um Charakterisirung der Stimmen
in Gegensatz und Einheit zu- und miteinander ist gar nicht zu deuten, und
das edelste Kunstorgan, die Stimme, wird herabgewürdigt zum bloßen Effect-
Mittel und zur Erzeugung von Klangfarben. Die wirkliche Erkenntniß des
Chorgesangsatzes verlangt allerdings gründlichere Studien nicht nur des Ton-
satzes, sondern auch des wahren Ausdrucks, der richtige" Auffassung des Tex¬
tes und Declamation; der musikalischen Phantasie werden Grenzen gezogen,
so wie sie die Verbindung mit dem Wort eingeht, sie wird genöthigt, ein
den Gcfühlsinhalt des poetischen Gedankens treffend versinnlichendes Tonbild
Zu schaffen und ein Widerspruch ist leichter nachweisbar wie in der Instrumental-
Musik. Unsere gegenwärtige theils vom Hergebrachten sich nährende, theils
auf steter Hetzjagd nach Effecten begriffene Jnstrumentation dagegen drängt
>nit ihrer derben Sinnlichkeit dem Ohr dermaßen zudringlich sich auf, daß
ein jeder Musiker heutzutage in diesem oberflächlichen Sinn gut instrumentirt
und neue Effecte findet, da es auf deren Schönheit keineswegs, nur auf so¬
genannte Originalität ankommt. Seit Beethovens unmeßbarer Genius die
Instrumentalmusik zu dem erhob, was sie als selbstständige Kunst nur irgend
sein kann, aber damit auch für jetzt abschloß, ist sie langsam aber stetig von
dieser Höhe wiederum herabgesunken, wenngleich Mendelssohn, Spohr und
Schumann noch Bedeutendes darin geleistet haben, und besonders der
letztere auch in manchen Einzelnheiten als Erfinder zu nennen ist. So ist
es wol kaum einem Zweifel unterworfen, daß, wenn wir den Chorgesang als
Ausgangspunkt unsrer Hoffnungen für die Zukunft der Musik betrachten, diese
Weniger getäuscht werden könnten.

Vom Oratorium und seiner Geltung in der Gegenwart herrschen im All¬
gemeinen noch viele unbestimmte Vorstellungen; am häufigsten ausgesprochen
'se besonders der Zweifel, ob man dieser Kunstform wol noch eine Berechti¬
gst zugestehen könne, ob sie sich nicht mit den kirchlichen Zuständen ihrer
^ntstehuugszcit ausgelebt hätte. Dieser Zweifel ist jedoch gleich beseitigt,
wenn man das Oratorium nicht als rein kirchliches, sondern als historisches


Bedeutendes und Individuelles an Motiv- und Themenbildungen, und das
Ganze trotz fortwährender Hitze einer nichts weniger wie kirchlichen Leiden¬
schaftlichkeit, eine träge Physiognomie. Was von Motiven irgendwie sich
heraushebt, liegt im Orchester, lenkt sonnt die ganze Auftnerksamkeit auf
das Instrumentale, und drückt den Chor völlig in eine untergeordnete Rolle
als Harmonienusfüllung herab, und eine solche widernatürliche Verwendung
rächt sich von selbst durch Wirkungslosigteit. Von der Bedeutsamkeit eines
Gcsmigchores fehlt in solchem Fall jeder Begriff; hier ist eine bleierne Masse,
während im polyphonen Chor jede Chorstimme als ideale Person ihren festen
Gang behauptet, und doch alle zusammen als Ausdruck einer idealen Allgemeinheit
in ein zusammenklingendes Ganzes aufgehen; um Charakterisirung der Stimmen
in Gegensatz und Einheit zu- und miteinander ist gar nicht zu deuten, und
das edelste Kunstorgan, die Stimme, wird herabgewürdigt zum bloßen Effect-
Mittel und zur Erzeugung von Klangfarben. Die wirkliche Erkenntniß des
Chorgesangsatzes verlangt allerdings gründlichere Studien nicht nur des Ton-
satzes, sondern auch des wahren Ausdrucks, der richtige» Auffassung des Tex¬
tes und Declamation; der musikalischen Phantasie werden Grenzen gezogen,
so wie sie die Verbindung mit dem Wort eingeht, sie wird genöthigt, ein
den Gcfühlsinhalt des poetischen Gedankens treffend versinnlichendes Tonbild
Zu schaffen und ein Widerspruch ist leichter nachweisbar wie in der Instrumental-
Musik. Unsere gegenwärtige theils vom Hergebrachten sich nährende, theils
auf steter Hetzjagd nach Effecten begriffene Jnstrumentation dagegen drängt
>nit ihrer derben Sinnlichkeit dem Ohr dermaßen zudringlich sich auf, daß
ein jeder Musiker heutzutage in diesem oberflächlichen Sinn gut instrumentirt
und neue Effecte findet, da es auf deren Schönheit keineswegs, nur auf so¬
genannte Originalität ankommt. Seit Beethovens unmeßbarer Genius die
Instrumentalmusik zu dem erhob, was sie als selbstständige Kunst nur irgend
sein kann, aber damit auch für jetzt abschloß, ist sie langsam aber stetig von
dieser Höhe wiederum herabgesunken, wenngleich Mendelssohn, Spohr und
Schumann noch Bedeutendes darin geleistet haben, und besonders der
letztere auch in manchen Einzelnheiten als Erfinder zu nennen ist. So ist
es wol kaum einem Zweifel unterworfen, daß, wenn wir den Chorgesang als
Ausgangspunkt unsrer Hoffnungen für die Zukunft der Musik betrachten, diese
Weniger getäuscht werden könnten.

Vom Oratorium und seiner Geltung in der Gegenwart herrschen im All¬
gemeinen noch viele unbestimmte Vorstellungen; am häufigsten ausgesprochen
'se besonders der Zweifel, ob man dieser Kunstform wol noch eine Berechti¬
gst zugestehen könne, ob sie sich nicht mit den kirchlichen Zuständen ihrer
^ntstehuugszcit ausgelebt hätte. Dieser Zweifel ist jedoch gleich beseitigt,
wenn man das Oratorium nicht als rein kirchliches, sondern als historisches


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/499>, abgerufen am 23.07.2024.