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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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nicht ausstirbt, so konnte kaum fehlen, daß durch diese Charakterlosigkeit
der Kirchenmusik der neuesten Zeit die ganze Kunstgattung in die fast
mehr als zweifelhafte Stellung gerathen mußte, in der sie sich gegenwärtig
befindet. Die Stellung der Kirchenmusik und die Begriffe von ihrem wahren
Wesen sind so schwankend, daß bei einem vor kurzem hier in Leipzig statt¬
findenden Tonkünstlcrfest Franz Lißt den herausfordernden Uebermuth besaß,
einen seiner gewaltsamsten Kunstrevolutionsversuche, die Grauer Fcstmesse, mit
der Bachschen Il moll Messe zu confrontiren. Wie gesagt, der Geschmack des
Publicums ist über das Wesen der kirchlichen Tonkunst keineswegs mit sich
im Reinen, aber dieses Gegenüber der gröbsten Sinnlichkeit und des knorrigsten
Materialismus der Lißtschen, und der reinsten Idealität der Bachschen Messe
war denn doch eine etwas starke Zumuthung an diejenigen Künstler und Kunst¬
verehrer, die Wahrheit, Reinheit und Schönheit als Lebensbedingungen der
Kunst ansehen. Wenn auch nicht überall klar vcrstandeU, so wurde doch von neun
Zehntheilen des Publicums lebhaft genug empfunden, daß die Bachsche Messe eine
unwiderstehlich gewaltige Beweisführung des wahrhaften Genius gewesen ist,
gegen dessen Fülle, Kraft und edle Bescheidenheit die Selbstüberschätzung der
eignen Kräfte in der erstgenannten Festmesse einen schreienden Contrast bildete.
Für eine ausführlicher eingehende Besprechung war der Mißgriff dieses Gegen¬
über gar zu unzweideutig, das sonstige Treiben bei jenem Fest für einen
längern Bericht zu unerquicklich, sonst hätte es an einer eingehenden Be¬
trachtung an dieser Stelle nicht gefehlt. Schließlich ist in solchen Sachen
das Für und Wider des Einzelnen ganz gleichgiltig, die Zeit geht über bei¬
des hinweg ruhig zur Tagesordnung über, und fällt, wenn auch nicht gleich,
so später ohne Zweifel das einzige unantastbar richtige Urtheil. Die Läute¬
rung des Geschmacks durch Unterricht, Forschung, Schrift und lebendige That
ist die schönste Aufgabe unserer Zeit, deshalb begrüßen wir die Erscheinung
oder Neubelebung eines jeden vom Geist zum Geist sprechenden Kunstpro-
ductes, gleichviel ob es über Nacht oder vor hundert Jahren entstanden ist,
gewiß mit unverhehlter Freude als die sicherste Grundlage zu einem wahren
Fortschritt; da unsere Gegenwart aber nichts der Vergangenheit Ebenbürtiges
bietet, greifen wir gern in frühere Perioden zurück, und glauben auf diese
Weise nach und nach sicherer zum Wahren zu gelaugen.

Auch für die allgemeinere Ausübung des Chorgesanges ist die Ausgabe
von Händels und Bachs Werken unzweifelhaft folgenreich und wichtig und
wird somit auch von diesem Punkt aus zur Hebung der Kunst beitragen. Denn
ich glaube, daß nur durch die erneute Pflege des von der religiösen und ora-
torischen Tonkunst untrennbaren Chorgcsanges die Musik neues Leben ge¬
winnen kann, nicht aber durch die Instrumentalmusik auf ihrem heutigen
Standpunkt. Die Kunst muß vor allen Dingen zur Einfachheit zurückkehren,


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nicht ausstirbt, so konnte kaum fehlen, daß durch diese Charakterlosigkeit
der Kirchenmusik der neuesten Zeit die ganze Kunstgattung in die fast
mehr als zweifelhafte Stellung gerathen mußte, in der sie sich gegenwärtig
befindet. Die Stellung der Kirchenmusik und die Begriffe von ihrem wahren
Wesen sind so schwankend, daß bei einem vor kurzem hier in Leipzig statt¬
findenden Tonkünstlcrfest Franz Lißt den herausfordernden Uebermuth besaß,
einen seiner gewaltsamsten Kunstrevolutionsversuche, die Grauer Fcstmesse, mit
der Bachschen Il moll Messe zu confrontiren. Wie gesagt, der Geschmack des
Publicums ist über das Wesen der kirchlichen Tonkunst keineswegs mit sich
im Reinen, aber dieses Gegenüber der gröbsten Sinnlichkeit und des knorrigsten
Materialismus der Lißtschen, und der reinsten Idealität der Bachschen Messe
war denn doch eine etwas starke Zumuthung an diejenigen Künstler und Kunst¬
verehrer, die Wahrheit, Reinheit und Schönheit als Lebensbedingungen der
Kunst ansehen. Wenn auch nicht überall klar vcrstandeU, so wurde doch von neun
Zehntheilen des Publicums lebhaft genug empfunden, daß die Bachsche Messe eine
unwiderstehlich gewaltige Beweisführung des wahrhaften Genius gewesen ist,
gegen dessen Fülle, Kraft und edle Bescheidenheit die Selbstüberschätzung der
eignen Kräfte in der erstgenannten Festmesse einen schreienden Contrast bildete.
Für eine ausführlicher eingehende Besprechung war der Mißgriff dieses Gegen¬
über gar zu unzweideutig, das sonstige Treiben bei jenem Fest für einen
längern Bericht zu unerquicklich, sonst hätte es an einer eingehenden Be¬
trachtung an dieser Stelle nicht gefehlt. Schließlich ist in solchen Sachen
das Für und Wider des Einzelnen ganz gleichgiltig, die Zeit geht über bei¬
des hinweg ruhig zur Tagesordnung über, und fällt, wenn auch nicht gleich,
so später ohne Zweifel das einzige unantastbar richtige Urtheil. Die Läute¬
rung des Geschmacks durch Unterricht, Forschung, Schrift und lebendige That
ist die schönste Aufgabe unserer Zeit, deshalb begrüßen wir die Erscheinung
oder Neubelebung eines jeden vom Geist zum Geist sprechenden Kunstpro-
ductes, gleichviel ob es über Nacht oder vor hundert Jahren entstanden ist,
gewiß mit unverhehlter Freude als die sicherste Grundlage zu einem wahren
Fortschritt; da unsere Gegenwart aber nichts der Vergangenheit Ebenbürtiges
bietet, greifen wir gern in frühere Perioden zurück, und glauben auf diese
Weise nach und nach sicherer zum Wahren zu gelaugen.

Auch für die allgemeinere Ausübung des Chorgesanges ist die Ausgabe
von Händels und Bachs Werken unzweifelhaft folgenreich und wichtig und
wird somit auch von diesem Punkt aus zur Hebung der Kunst beitragen. Denn
ich glaube, daß nur durch die erneute Pflege des von der religiösen und ora-
torischen Tonkunst untrennbaren Chorgcsanges die Musik neues Leben ge¬
winnen kann, nicht aber durch die Instrumentalmusik auf ihrem heutigen
Standpunkt. Die Kunst muß vor allen Dingen zur Einfachheit zurückkehren,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/497>, abgerufen am 28.12.2024.