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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

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um das Denkmal des Meisters seinen einen festen Cultusort seiner Kunst zu
begründen?

Der von Franz geleitete Chor ist seiner Aufgabe sehr wohl gewachsen, be¬
sonders in Händelschcr Musik vortrefflich eingesungen; sein Vortrag ist frei
Musikalisch, man merkt nichts von der Mühe des Einstudirens. alles erscheint
wie freie Selbstthätigkeit, gleichsam une unmittelbar aus der eignen Phan¬
tasie der Sänger hervorgehend, nicht von Noten abgelesen. Man sieht über¬
haupt augenblicklich, daß ein Mann an der Spitze steht, dessen eigene geistige
und künstlerische Bedeutung, mit dem Werth der zu studirenden Tonwerke ver¬
mut, einen Einfluß von hoher, geistig belebender und befreiender Kraft auf
°le Mitwirkenden ausübt. Das Orchester, dem Chor an Tüchtigkeit aller¬
dings nachstehend, läßt sich leicht von Leipzig aus ergänzen, wie es bis jetzt
auch stets bei größeren Ausführungen geschehen ist, so daß es im Ganzen
seinen Platz wenigstens anständig ausfüllt. Solisten ersten Ranges haben bis¬
her willig an diesen Concerten Theil genommen -- also vereinigt sich alles,
"und fernere Darstellungen Händelschcr Oratorien in Halle wünschen zu lassen.

Am Tage der Enthüllung wurde der Samson gegeben, die Soli hatten
Frau Köster und Johanna Wagner, Tichatschck und Sabath mit ureigen-
"ütziger Bereitwilligkeit übernommen; namentlich soll Johanna Wagner sich
su> diese Angelegenheit aufs wärmste interessirt haben. Nichtsdestoweniger
darf man besonders einen Vorwurf gegen diese, sonst vortreffliche dramatische
Künstlerin nicht zurückhalten -- was für eine Veranlassung war gegeben, am
Schluß des Samson noch die Arie aus dem Messias "Ich weiß, daß mein
Erlöser lebt." hinten nachschleppen zu lassen? Nicht nur die Geschlossenheit
des Oratoriums ist dadurch beeinträchtigt, sondern auch die schöne Arie selbst
wurde, abgesehen von dem im vorliegenden Falle noch zu langsamen Tempo,
durch dieses ganz unmotivirte Anhängen an ein anderes Werk außer alle
Wirkung gesetzt. Nichtsdestoweniger schien ein Theil des Publicums Gefallen
daran zu finden -- das möge ihm auch weniger verdacht sein, wie der Kunst-
i"'in. die diesen Verstoß gegen die Einheit und Form der ganzen Aufführung
begangen hat. Wäre diese Künstlerin nicht Johanna Wagner, so würde sie
dadurch leicht den Verdacht einer virtuosenmäßigen Selbstüberschätzung dem
Nerke gegenüber auf sich gezogen haben. Uebrigens läßt ihre Stellung
Wr Bühne die Darstellung, da wo sie. wie im Oratorium, reiner Gesang ist.
bor. weniger günstigem Eindruck sein. Nicht daß sie etwa theatralische Wir¬
kungen in ihre Partie hineingetragen hätte -- weit entfernt, ihre Auffassung
^r edel und richtig; aber die durchaus schöne Gesangbildung, welche das
Oratorium, und besonders das Händelsche verlangt, vermißte man hier doch.
Auf der Bühne treten Schwächen, wie das Forciren der tiefen Tonlage, das
der Klangfarbe nach ziemlich unvermittelte Nebeneinanderstehen der bei dieser


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um das Denkmal des Meisters seinen einen festen Cultusort seiner Kunst zu
begründen?

Der von Franz geleitete Chor ist seiner Aufgabe sehr wohl gewachsen, be¬
sonders in Händelschcr Musik vortrefflich eingesungen; sein Vortrag ist frei
Musikalisch, man merkt nichts von der Mühe des Einstudirens. alles erscheint
wie freie Selbstthätigkeit, gleichsam une unmittelbar aus der eignen Phan¬
tasie der Sänger hervorgehend, nicht von Noten abgelesen. Man sieht über¬
haupt augenblicklich, daß ein Mann an der Spitze steht, dessen eigene geistige
und künstlerische Bedeutung, mit dem Werth der zu studirenden Tonwerke ver¬
mut, einen Einfluß von hoher, geistig belebender und befreiender Kraft auf
°le Mitwirkenden ausübt. Das Orchester, dem Chor an Tüchtigkeit aller¬
dings nachstehend, läßt sich leicht von Leipzig aus ergänzen, wie es bis jetzt
auch stets bei größeren Ausführungen geschehen ist, so daß es im Ganzen
seinen Platz wenigstens anständig ausfüllt. Solisten ersten Ranges haben bis¬
her willig an diesen Concerten Theil genommen — also vereinigt sich alles,
"und fernere Darstellungen Händelschcr Oratorien in Halle wünschen zu lassen.

Am Tage der Enthüllung wurde der Samson gegeben, die Soli hatten
Frau Köster und Johanna Wagner, Tichatschck und Sabath mit ureigen-
"ütziger Bereitwilligkeit übernommen; namentlich soll Johanna Wagner sich
su> diese Angelegenheit aufs wärmste interessirt haben. Nichtsdestoweniger
darf man besonders einen Vorwurf gegen diese, sonst vortreffliche dramatische
Künstlerin nicht zurückhalten — was für eine Veranlassung war gegeben, am
Schluß des Samson noch die Arie aus dem Messias „Ich weiß, daß mein
Erlöser lebt." hinten nachschleppen zu lassen? Nicht nur die Geschlossenheit
des Oratoriums ist dadurch beeinträchtigt, sondern auch die schöne Arie selbst
wurde, abgesehen von dem im vorliegenden Falle noch zu langsamen Tempo,
durch dieses ganz unmotivirte Anhängen an ein anderes Werk außer alle
Wirkung gesetzt. Nichtsdestoweniger schien ein Theil des Publicums Gefallen
daran zu finden — das möge ihm auch weniger verdacht sein, wie der Kunst-
i"'in. die diesen Verstoß gegen die Einheit und Form der ganzen Aufführung
begangen hat. Wäre diese Künstlerin nicht Johanna Wagner, so würde sie
dadurch leicht den Verdacht einer virtuosenmäßigen Selbstüberschätzung dem
Nerke gegenüber auf sich gezogen haben. Uebrigens läßt ihre Stellung
Wr Bühne die Darstellung, da wo sie. wie im Oratorium, reiner Gesang ist.
bor. weniger günstigem Eindruck sein. Nicht daß sie etwa theatralische Wir¬
kungen in ihre Partie hineingetragen hätte — weit entfernt, ihre Auffassung
^r edel und richtig; aber die durchaus schöne Gesangbildung, welche das
Oratorium, und besonders das Händelsche verlangt, vermißte man hier doch.
Auf der Bühne treten Schwächen, wie das Forciren der tiefen Tonlage, das
der Klangfarbe nach ziemlich unvermittelte Nebeneinanderstehen der bei dieser


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/169>, abgerufen am 23.07.2024.