Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

zu müssen. So wohlthätig solche Spenden im Augenblick wirken, so sehr
müssen sie das edle Selbstvertrauen und die männliche Thatkraft schwächen,
der das "Hilf dir selbst" ein Ehrenpunkt sein muß. Mancher Jnsasse der
reich besetzten Armenhäuser mag dadurch sittlich verderbt worden sein.

Wenn aber auch die Hungerjahre, welche diesen Landstrich häusiger als
einen andern mitteleuropäischen heimgesucht haben, nicht vorbeigegangen sind,
ohne bleibende sittliche Schäden zu hinterlassen: mit einer Untugend, die manche
andere arme Gegend, z. B. manches herrliche Alpenthal so verunziert,
konnten sie die Erzgebirger nicht anstecken. Sie sind frei von der gierigen
Geldlüsternheit, welche mit Wespenzudringlichkeit den Fremden umschwärmt.
In der Hungerzeit hat es natürlich an Almosen Heischenden nicht gefehlt, selbst
nach dem armen Wiesenthal sollen die Bedürftigen tiefer gelegener Gegenden
in Scharen gekommen sein; aber jetzt, wo doch viele in sehr kümmerlichen
Verhältnissen leben, kann der Fremde selbst die ärmsten Gegenden durchwan¬
dern, ohne von jemandem um eine Gabe angesprochen zu werden, außer
etwa von einem Krüppel. Und die Abwesenheit der Bettelei ist nicht
das Verdienst der Polizei. Der arme Erzgebirger, der den Fremden im
einsamen Waide zurechtweist oder ihm am verfallenen Schacht Bericht gibt,
macht auch da, wo ihn kein Auge belauscht, keine verlangende Miene, oder
streckt gar, wie manche Aelpler und selbst die trotzigen Colliers in England
thun, die Hand nach einem Trinkgeld aus. Bezeigt man seine Erkenntlichkeit
durch eine Gabe, so wird sie mit schüchterner Dankbarkeit angenommen, der
man ansieht, daß das Geschenk ungesucht kommt.

Bei den Jrlnndern und manchen andern armen Völkern ist die Gemüth¬
lichkeit gepaart mit einer sehr regen und kräftigen Phantasie, welche sogar den
Verstand überwuchert. Anders bei dem Erzgebirger. Er scheint eher nüchtern¬
verständig, als phantasiereich. Seine Ausdrucksweise ist bei aller Naivetät
viel nüchterner und prosaischer als die des Harzers und Thüringers. Kühne
Metaphern, ungeheuerliche Hyperbeln, barocke Wortspiele, durch die namentlich
der letztere den Fremden überrascht, hörte ich bei keinem Erzgebirger. Wurde
mir doch, als darauf die Sprache kam, in einem sächsischen Orte an der böh¬
mischen Grenze die Aeußerung eines Deutschböhmen: "der Nebel sei heute so
dick, als habe man ihn mit dem Besen zusammengekehrt," als ein Zeichen
der besondern Sprachkühnheit der Grenznachbarn angeführt. Wie zahm er¬
scheint das dem thüringer Wäldler! Der würde anderes Grobgeschütz auf¬
geführt haben, etwa: "ein Nebel, in dem eine Heugabel stecken bleibt, oder
den vier Pferde nicht zerreißen." Seine mehr nüchterne, dem Schriftgemäßen
entsprechende Ausdrucksweise läßt den Erzgebirger immer eher als einen verarm"
ten Gebildeten, denn als einen armen Natursohn erscheinen.

Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Geschichte des Er?


zu müssen. So wohlthätig solche Spenden im Augenblick wirken, so sehr
müssen sie das edle Selbstvertrauen und die männliche Thatkraft schwächen,
der das „Hilf dir selbst" ein Ehrenpunkt sein muß. Mancher Jnsasse der
reich besetzten Armenhäuser mag dadurch sittlich verderbt worden sein.

Wenn aber auch die Hungerjahre, welche diesen Landstrich häusiger als
einen andern mitteleuropäischen heimgesucht haben, nicht vorbeigegangen sind,
ohne bleibende sittliche Schäden zu hinterlassen: mit einer Untugend, die manche
andere arme Gegend, z. B. manches herrliche Alpenthal so verunziert,
konnten sie die Erzgebirger nicht anstecken. Sie sind frei von der gierigen
Geldlüsternheit, welche mit Wespenzudringlichkeit den Fremden umschwärmt.
In der Hungerzeit hat es natürlich an Almosen Heischenden nicht gefehlt, selbst
nach dem armen Wiesenthal sollen die Bedürftigen tiefer gelegener Gegenden
in Scharen gekommen sein; aber jetzt, wo doch viele in sehr kümmerlichen
Verhältnissen leben, kann der Fremde selbst die ärmsten Gegenden durchwan¬
dern, ohne von jemandem um eine Gabe angesprochen zu werden, außer
etwa von einem Krüppel. Und die Abwesenheit der Bettelei ist nicht
das Verdienst der Polizei. Der arme Erzgebirger, der den Fremden im
einsamen Waide zurechtweist oder ihm am verfallenen Schacht Bericht gibt,
macht auch da, wo ihn kein Auge belauscht, keine verlangende Miene, oder
streckt gar, wie manche Aelpler und selbst die trotzigen Colliers in England
thun, die Hand nach einem Trinkgeld aus. Bezeigt man seine Erkenntlichkeit
durch eine Gabe, so wird sie mit schüchterner Dankbarkeit angenommen, der
man ansieht, daß das Geschenk ungesucht kommt.

Bei den Jrlnndern und manchen andern armen Völkern ist die Gemüth¬
lichkeit gepaart mit einer sehr regen und kräftigen Phantasie, welche sogar den
Verstand überwuchert. Anders bei dem Erzgebirger. Er scheint eher nüchtern¬
verständig, als phantasiereich. Seine Ausdrucksweise ist bei aller Naivetät
viel nüchterner und prosaischer als die des Harzers und Thüringers. Kühne
Metaphern, ungeheuerliche Hyperbeln, barocke Wortspiele, durch die namentlich
der letztere den Fremden überrascht, hörte ich bei keinem Erzgebirger. Wurde
mir doch, als darauf die Sprache kam, in einem sächsischen Orte an der böh¬
mischen Grenze die Aeußerung eines Deutschböhmen: „der Nebel sei heute so
dick, als habe man ihn mit dem Besen zusammengekehrt," als ein Zeichen
der besondern Sprachkühnheit der Grenznachbarn angeführt. Wie zahm er¬
scheint das dem thüringer Wäldler! Der würde anderes Grobgeschütz auf¬
geführt haben, etwa: „ein Nebel, in dem eine Heugabel stecken bleibt, oder
den vier Pferde nicht zerreißen." Seine mehr nüchterne, dem Schriftgemäßen
entsprechende Ausdrucksweise läßt den Erzgebirger immer eher als einen verarm"
ten Gebildeten, denn als einen armen Natursohn erscheinen.

Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Geschichte des Er?


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0120" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107706"/>
            <p xml:id="ID_369" prev="#ID_368"> zu müssen. So wohlthätig solche Spenden im Augenblick wirken, so sehr<lb/>
müssen sie das edle Selbstvertrauen und die männliche Thatkraft schwächen,<lb/>
der das &#x201E;Hilf dir selbst" ein Ehrenpunkt sein muß. Mancher Jnsasse der<lb/>
reich besetzten Armenhäuser mag dadurch sittlich verderbt worden sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_370"> Wenn aber auch die Hungerjahre, welche diesen Landstrich häusiger als<lb/>
einen andern mitteleuropäischen heimgesucht haben, nicht vorbeigegangen sind,<lb/>
ohne bleibende sittliche Schäden zu hinterlassen: mit einer Untugend, die manche<lb/>
andere arme Gegend, z. B. manches herrliche Alpenthal so verunziert,<lb/>
konnten sie die Erzgebirger nicht anstecken. Sie sind frei von der gierigen<lb/>
Geldlüsternheit, welche mit Wespenzudringlichkeit den Fremden umschwärmt.<lb/>
In der Hungerzeit hat es natürlich an Almosen Heischenden nicht gefehlt, selbst<lb/>
nach dem armen Wiesenthal sollen die Bedürftigen tiefer gelegener Gegenden<lb/>
in Scharen gekommen sein; aber jetzt, wo doch viele in sehr kümmerlichen<lb/>
Verhältnissen leben, kann der Fremde selbst die ärmsten Gegenden durchwan¬<lb/>
dern, ohne von jemandem um eine Gabe angesprochen zu werden, außer<lb/>
etwa von einem Krüppel. Und die Abwesenheit der Bettelei ist nicht<lb/>
das Verdienst der Polizei. Der arme Erzgebirger, der den Fremden im<lb/>
einsamen Waide zurechtweist oder ihm am verfallenen Schacht Bericht gibt,<lb/>
macht auch da, wo ihn kein Auge belauscht, keine verlangende Miene, oder<lb/>
streckt gar, wie manche Aelpler und selbst die trotzigen Colliers in England<lb/>
thun, die Hand nach einem Trinkgeld aus. Bezeigt man seine Erkenntlichkeit<lb/>
durch eine Gabe, so wird sie mit schüchterner Dankbarkeit angenommen, der<lb/>
man ansieht, daß das Geschenk ungesucht kommt.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_371"> Bei den Jrlnndern und manchen andern armen Völkern ist die Gemüth¬<lb/>
lichkeit gepaart mit einer sehr regen und kräftigen Phantasie, welche sogar den<lb/>
Verstand überwuchert. Anders bei dem Erzgebirger. Er scheint eher nüchtern¬<lb/>
verständig, als phantasiereich. Seine Ausdrucksweise ist bei aller Naivetät<lb/>
viel nüchterner und prosaischer als die des Harzers und Thüringers. Kühne<lb/>
Metaphern, ungeheuerliche Hyperbeln, barocke Wortspiele, durch die namentlich<lb/>
der letztere den Fremden überrascht, hörte ich bei keinem Erzgebirger. Wurde<lb/>
mir doch, als darauf die Sprache kam, in einem sächsischen Orte an der böh¬<lb/>
mischen Grenze die Aeußerung eines Deutschböhmen: &#x201E;der Nebel sei heute so<lb/>
dick, als habe man ihn mit dem Besen zusammengekehrt," als ein Zeichen<lb/>
der besondern Sprachkühnheit der Grenznachbarn angeführt. Wie zahm er¬<lb/>
scheint das dem thüringer Wäldler! Der würde anderes Grobgeschütz auf¬<lb/>
geführt haben, etwa: &#x201E;ein Nebel, in dem eine Heugabel stecken bleibt, oder<lb/>
den vier Pferde nicht zerreißen." Seine mehr nüchterne, dem Schriftgemäßen<lb/>
entsprechende Ausdrucksweise läßt den Erzgebirger immer eher als einen verarm"<lb/>
ten Gebildeten, denn als einen armen Natursohn erscheinen.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_372" next="#ID_373"> Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Geschichte des Er?</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0120] zu müssen. So wohlthätig solche Spenden im Augenblick wirken, so sehr müssen sie das edle Selbstvertrauen und die männliche Thatkraft schwächen, der das „Hilf dir selbst" ein Ehrenpunkt sein muß. Mancher Jnsasse der reich besetzten Armenhäuser mag dadurch sittlich verderbt worden sein. Wenn aber auch die Hungerjahre, welche diesen Landstrich häusiger als einen andern mitteleuropäischen heimgesucht haben, nicht vorbeigegangen sind, ohne bleibende sittliche Schäden zu hinterlassen: mit einer Untugend, die manche andere arme Gegend, z. B. manches herrliche Alpenthal so verunziert, konnten sie die Erzgebirger nicht anstecken. Sie sind frei von der gierigen Geldlüsternheit, welche mit Wespenzudringlichkeit den Fremden umschwärmt. In der Hungerzeit hat es natürlich an Almosen Heischenden nicht gefehlt, selbst nach dem armen Wiesenthal sollen die Bedürftigen tiefer gelegener Gegenden in Scharen gekommen sein; aber jetzt, wo doch viele in sehr kümmerlichen Verhältnissen leben, kann der Fremde selbst die ärmsten Gegenden durchwan¬ dern, ohne von jemandem um eine Gabe angesprochen zu werden, außer etwa von einem Krüppel. Und die Abwesenheit der Bettelei ist nicht das Verdienst der Polizei. Der arme Erzgebirger, der den Fremden im einsamen Waide zurechtweist oder ihm am verfallenen Schacht Bericht gibt, macht auch da, wo ihn kein Auge belauscht, keine verlangende Miene, oder streckt gar, wie manche Aelpler und selbst die trotzigen Colliers in England thun, die Hand nach einem Trinkgeld aus. Bezeigt man seine Erkenntlichkeit durch eine Gabe, so wird sie mit schüchterner Dankbarkeit angenommen, der man ansieht, daß das Geschenk ungesucht kommt. Bei den Jrlnndern und manchen andern armen Völkern ist die Gemüth¬ lichkeit gepaart mit einer sehr regen und kräftigen Phantasie, welche sogar den Verstand überwuchert. Anders bei dem Erzgebirger. Er scheint eher nüchtern¬ verständig, als phantasiereich. Seine Ausdrucksweise ist bei aller Naivetät viel nüchterner und prosaischer als die des Harzers und Thüringers. Kühne Metaphern, ungeheuerliche Hyperbeln, barocke Wortspiele, durch die namentlich der letztere den Fremden überrascht, hörte ich bei keinem Erzgebirger. Wurde mir doch, als darauf die Sprache kam, in einem sächsischen Orte an der böh¬ mischen Grenze die Aeußerung eines Deutschböhmen: „der Nebel sei heute so dick, als habe man ihn mit dem Besen zusammengekehrt," als ein Zeichen der besondern Sprachkühnheit der Grenznachbarn angeführt. Wie zahm er¬ scheint das dem thüringer Wäldler! Der würde anderes Grobgeschütz auf¬ geführt haben, etwa: „ein Nebel, in dem eine Heugabel stecken bleibt, oder den vier Pferde nicht zerreißen." Seine mehr nüchterne, dem Schriftgemäßen entsprechende Ausdrucksweise läßt den Erzgebirger immer eher als einen verarm" ten Gebildeten, denn als einen armen Natursohn erscheinen. Werfen wir zum Schluß noch einen Blick auf die Geschichte des Er?

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/120
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107585/120>, abgerufen am 28.12.2024.