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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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Ueber die Tendenz der römischen Religion, die göttliche Natur in ihren
zahllosen und allgegenwärtigen Wirkungen und Aeußerungen zu erkennen, ohne
sich von diesem Begriff unendlich vieler Kräfte und Eigenschaften zur plastischen
Gestaltung individueller göttlicher Persönlichkeiten zu erheben -- über diese
Tendenz belehren uns besonders die Ueberreste alter Gebetsformeln, die Varro
in seinem Werk über die Religionsalterthümer benutzt hatte, welches wir frei¬
lich nur ans Excerpten der Kirchenväter kennen. Hier wird eine große Anzahl
von Gottheiten genannt, die den göttlichen Schutz und Beistand ausdrücken,
der über jedem Moment des menschlichen Lebens von der Geburt, ja von der
Empfängnis) an waltet und von dem alles Gedeihen, Gelingen und Voll¬
bringen abhängt. Die Kirchenväter haben sie nicht unpassend mit den Engeln
des christlichen Glaubens verglichen -- um so unpassender ist ihre Polemik
gegen diesen "Götterpöbcl", da sie den tief religiösen Sinn, aus dem diese
Vorstellungen hervorgegangen sind, aus Mißverständnis; oder Absicht ignoriren,
und überdies so thun, als würden diese zahllosen helfenden und dienenden
Mächte noch immer verehrt und angebetet, während sie zum größten Theil
offenbar nur Götter des Cultus gewesen sind und ihre Namen damals meistens
Nur noch den Alterthumsforschern bekannt waren. Die Reihe der Mächte,
die die Entwicklung des Neugebornen beschützen, beginnt mit dem Gott Va-
gitanus, der dem Kinde mit dem ersten Schrei den Mund öffnet, und der
Göttin Levana, die es von der Erde aushebt --durch die Handlung des Auf¬
hebens erkannte der Vater das vor ihn hingelegte Neugeborne als das Seine
an. Die Göttin Cunina schützt das Kind in der Wiege, Rumina ließ es an
der Mutterbrust gedeihen, Nundina waltet über der Ceremonie des neunten
Tages, an dem die Knaben den Namen erhielten. Poema und Educa (oder
Edusa) gewöhnen das Kind nach der Entwöhnung an Speise und Trank,
Cube legt das Kind von der Wiege ins Bett, Ossipago läßt die Knochen fest
werden und erstarken. Das erste Stehen und Sprechen der Kinder danke man
dem Statanus oder Statilinus und Fabelinus. Abcona und Adeona bezog man
sonst auf Aus- und Eingang, nach Prellers Vermuthung sind es die Beschü¬
tzerinnen der ersten Laufversuche mit dem bekannten Ab- und Zulauf zwischen
zwei Paaren schützender Anne.

Von den übrigen Götterreihen, die nicht nur die Entwicklung des Lebens
durch alle ihre Stadien begleiteten, sondern auch bei allen menschlichen Thätig¬
keiten und Beschäftigungen angerufen wurden, kennen wir in einiger Voll¬
ständigkeit nur die Götter der Ehe und des Ackerbaues. Wenn der zu bestellende
Acker im offnen Felde lag, beschützte ihn die asa Iwüna, (von ruf), an Berges¬
abhängen Jugatinus. auf Hügeln Collatina, in Thälern Vallonia. Seja
War die Göttin der ausgestreuten, Segetia der sprossenden Saat. Proserpina
beschützte das Keimen, Nodotus ließ den Halm von einem Knoten zum andern


Grenzboten II. 1859. 49

Ueber die Tendenz der römischen Religion, die göttliche Natur in ihren
zahllosen und allgegenwärtigen Wirkungen und Aeußerungen zu erkennen, ohne
sich von diesem Begriff unendlich vieler Kräfte und Eigenschaften zur plastischen
Gestaltung individueller göttlicher Persönlichkeiten zu erheben — über diese
Tendenz belehren uns besonders die Ueberreste alter Gebetsformeln, die Varro
in seinem Werk über die Religionsalterthümer benutzt hatte, welches wir frei¬
lich nur ans Excerpten der Kirchenväter kennen. Hier wird eine große Anzahl
von Gottheiten genannt, die den göttlichen Schutz und Beistand ausdrücken,
der über jedem Moment des menschlichen Lebens von der Geburt, ja von der
Empfängnis) an waltet und von dem alles Gedeihen, Gelingen und Voll¬
bringen abhängt. Die Kirchenväter haben sie nicht unpassend mit den Engeln
des christlichen Glaubens verglichen — um so unpassender ist ihre Polemik
gegen diesen „Götterpöbcl", da sie den tief religiösen Sinn, aus dem diese
Vorstellungen hervorgegangen sind, aus Mißverständnis; oder Absicht ignoriren,
und überdies so thun, als würden diese zahllosen helfenden und dienenden
Mächte noch immer verehrt und angebetet, während sie zum größten Theil
offenbar nur Götter des Cultus gewesen sind und ihre Namen damals meistens
Nur noch den Alterthumsforschern bekannt waren. Die Reihe der Mächte,
die die Entwicklung des Neugebornen beschützen, beginnt mit dem Gott Va-
gitanus, der dem Kinde mit dem ersten Schrei den Mund öffnet, und der
Göttin Levana, die es von der Erde aushebt —durch die Handlung des Auf¬
hebens erkannte der Vater das vor ihn hingelegte Neugeborne als das Seine
an. Die Göttin Cunina schützt das Kind in der Wiege, Rumina ließ es an
der Mutterbrust gedeihen, Nundina waltet über der Ceremonie des neunten
Tages, an dem die Knaben den Namen erhielten. Poema und Educa (oder
Edusa) gewöhnen das Kind nach der Entwöhnung an Speise und Trank,
Cube legt das Kind von der Wiege ins Bett, Ossipago läßt die Knochen fest
werden und erstarken. Das erste Stehen und Sprechen der Kinder danke man
dem Statanus oder Statilinus und Fabelinus. Abcona und Adeona bezog man
sonst auf Aus- und Eingang, nach Prellers Vermuthung sind es die Beschü¬
tzerinnen der ersten Laufversuche mit dem bekannten Ab- und Zulauf zwischen
zwei Paaren schützender Anne.

Von den übrigen Götterreihen, die nicht nur die Entwicklung des Lebens
durch alle ihre Stadien begleiteten, sondern auch bei allen menschlichen Thätig¬
keiten und Beschäftigungen angerufen wurden, kennen wir in einiger Voll¬
ständigkeit nur die Götter der Ehe und des Ackerbaues. Wenn der zu bestellende
Acker im offnen Felde lag, beschützte ihn die asa Iwüna, (von ruf), an Berges¬
abhängen Jugatinus. auf Hügeln Collatina, in Thälern Vallonia. Seja
War die Göttin der ausgestreuten, Segetia der sprossenden Saat. Proserpina
beschützte das Keimen, Nodotus ließ den Halm von einem Knoten zum andern


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[0395] Ueber die Tendenz der römischen Religion, die göttliche Natur in ihren zahllosen und allgegenwärtigen Wirkungen und Aeußerungen zu erkennen, ohne sich von diesem Begriff unendlich vieler Kräfte und Eigenschaften zur plastischen Gestaltung individueller göttlicher Persönlichkeiten zu erheben — über diese Tendenz belehren uns besonders die Ueberreste alter Gebetsformeln, die Varro in seinem Werk über die Religionsalterthümer benutzt hatte, welches wir frei¬ lich nur ans Excerpten der Kirchenväter kennen. Hier wird eine große Anzahl von Gottheiten genannt, die den göttlichen Schutz und Beistand ausdrücken, der über jedem Moment des menschlichen Lebens von der Geburt, ja von der Empfängnis) an waltet und von dem alles Gedeihen, Gelingen und Voll¬ bringen abhängt. Die Kirchenväter haben sie nicht unpassend mit den Engeln des christlichen Glaubens verglichen — um so unpassender ist ihre Polemik gegen diesen „Götterpöbcl", da sie den tief religiösen Sinn, aus dem diese Vorstellungen hervorgegangen sind, aus Mißverständnis; oder Absicht ignoriren, und überdies so thun, als würden diese zahllosen helfenden und dienenden Mächte noch immer verehrt und angebetet, während sie zum größten Theil offenbar nur Götter des Cultus gewesen sind und ihre Namen damals meistens Nur noch den Alterthumsforschern bekannt waren. Die Reihe der Mächte, die die Entwicklung des Neugebornen beschützen, beginnt mit dem Gott Va- gitanus, der dem Kinde mit dem ersten Schrei den Mund öffnet, und der Göttin Levana, die es von der Erde aushebt —durch die Handlung des Auf¬ hebens erkannte der Vater das vor ihn hingelegte Neugeborne als das Seine an. Die Göttin Cunina schützt das Kind in der Wiege, Rumina ließ es an der Mutterbrust gedeihen, Nundina waltet über der Ceremonie des neunten Tages, an dem die Knaben den Namen erhielten. Poema und Educa (oder Edusa) gewöhnen das Kind nach der Entwöhnung an Speise und Trank, Cube legt das Kind von der Wiege ins Bett, Ossipago läßt die Knochen fest werden und erstarken. Das erste Stehen und Sprechen der Kinder danke man dem Statanus oder Statilinus und Fabelinus. Abcona und Adeona bezog man sonst auf Aus- und Eingang, nach Prellers Vermuthung sind es die Beschü¬ tzerinnen der ersten Laufversuche mit dem bekannten Ab- und Zulauf zwischen zwei Paaren schützender Anne. Von den übrigen Götterreihen, die nicht nur die Entwicklung des Lebens durch alle ihre Stadien begleiteten, sondern auch bei allen menschlichen Thätig¬ keiten und Beschäftigungen angerufen wurden, kennen wir in einiger Voll¬ ständigkeit nur die Götter der Ehe und des Ackerbaues. Wenn der zu bestellende Acker im offnen Felde lag, beschützte ihn die asa Iwüna, (von ruf), an Berges¬ abhängen Jugatinus. auf Hügeln Collatina, in Thälern Vallonia. Seja War die Göttin der ausgestreuten, Segetia der sprossenden Saat. Proserpina beschützte das Keimen, Nodotus ließ den Halm von einem Knoten zum andern Grenzboten II. 1859. 49

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/395>, abgerufen am 22.12.2024.