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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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zählung noch im Gange. Die Vollendung derselben wird ebenfalls, wenn
irgend möglich, abgewartet werden, ehe man zu neuen Aushebungen schreitet.
Freilich kaun die zwingende Nothwendigkeit der Verhältnisse stärker werden,
als alle diese Rücksichten. Allein vorerst ist nicht anzunehmen, daß die Peters¬
burger Politik sofort mit besonderem Nachdruck bei ihren Einmischungen in die
europäischen Verwicklungen sich auf ihr Heer berufen und an dasselbe appelliren
werde. Denn unter allen Umstünden ist sie gegenwärtig nicht in der vollen
Gewißheit, einem aggressiven und offensiven Vorgehen desselben, besonders
aus den Neichsgrenzen heraus, die erforderliche nachhaltige Wucht geben
zu können.

Dies hindert natürlich militärische Demonstrationen nicht, welche sich in¬
nerhalb der Neichsgrenzen halten. Man meldet bekanntlich auch schon von
Truppenbewegungen gegen Südwesten (Bessarabien, galizische Grenze). Daß
dieselben von der polnischen Armee (I.Armee) ausgeführt werden, ist kaum
anzunehmen, sie werden dem 4., 5. und 6. Armeecorps zufallen. Jedes der¬
selben hat allerdings einen Kriegssollstand von 44,000 Mann, ihr jetziger
wirklicher Bestand kann jedoch schwerlich -- auch nach Einberufung der tem¬
porär Beurlaubten -- höher als 30,000 Mann angenommen werden. Grade
die Südprovinzen sind aber vom letzten Kriege am härtesten mitgenom¬
men worden und die Dislocirungcn breiten sich deshalb auf einer unendlich
weiten Fläche aus. Die an sich schon langsame und mühselige Zusammenzie-
hung nimmt hier doppelte Arbeit und Zeit in Anspruch. Man kann daher
wol die Annahme als richtig gelten lassen, daß unter vier bis fünf Monaten
keine Halbweg bedeutende Armee in Bessarabien kriegfertig aufgestellt sein
könne. Und auch dann würde dieselbe schwerlich mehr als höchstens 80,000
Mann Effectivstärte haben können, überdies aber immer noch auf einen weiten
Raum vertheilt bleiben müssen.

Können und sollen nun alle diese Angaben und Betrachtungen nicht etwa
die Wichtigkeit eines militärischen Auftretens Rußlands verkleinern, so dürften
sie doch vielleicht dazu beitragen, die übertriebenen Besorgnisse zu vermindern,
welche von manchen Seiten geltend gemacht werden.




zählung noch im Gange. Die Vollendung derselben wird ebenfalls, wenn
irgend möglich, abgewartet werden, ehe man zu neuen Aushebungen schreitet.
Freilich kaun die zwingende Nothwendigkeit der Verhältnisse stärker werden,
als alle diese Rücksichten. Allein vorerst ist nicht anzunehmen, daß die Peters¬
burger Politik sofort mit besonderem Nachdruck bei ihren Einmischungen in die
europäischen Verwicklungen sich auf ihr Heer berufen und an dasselbe appelliren
werde. Denn unter allen Umstünden ist sie gegenwärtig nicht in der vollen
Gewißheit, einem aggressiven und offensiven Vorgehen desselben, besonders
aus den Neichsgrenzen heraus, die erforderliche nachhaltige Wucht geben
zu können.

Dies hindert natürlich militärische Demonstrationen nicht, welche sich in¬
nerhalb der Neichsgrenzen halten. Man meldet bekanntlich auch schon von
Truppenbewegungen gegen Südwesten (Bessarabien, galizische Grenze). Daß
dieselben von der polnischen Armee (I.Armee) ausgeführt werden, ist kaum
anzunehmen, sie werden dem 4., 5. und 6. Armeecorps zufallen. Jedes der¬
selben hat allerdings einen Kriegssollstand von 44,000 Mann, ihr jetziger
wirklicher Bestand kann jedoch schwerlich — auch nach Einberufung der tem¬
porär Beurlaubten — höher als 30,000 Mann angenommen werden. Grade
die Südprovinzen sind aber vom letzten Kriege am härtesten mitgenom¬
men worden und die Dislocirungcn breiten sich deshalb auf einer unendlich
weiten Fläche aus. Die an sich schon langsame und mühselige Zusammenzie-
hung nimmt hier doppelte Arbeit und Zeit in Anspruch. Man kann daher
wol die Annahme als richtig gelten lassen, daß unter vier bis fünf Monaten
keine Halbweg bedeutende Armee in Bessarabien kriegfertig aufgestellt sein
könne. Und auch dann würde dieselbe schwerlich mehr als höchstens 80,000
Mann Effectivstärte haben können, überdies aber immer noch auf einen weiten
Raum vertheilt bleiben müssen.

Können und sollen nun alle diese Angaben und Betrachtungen nicht etwa
die Wichtigkeit eines militärischen Auftretens Rußlands verkleinern, so dürften
sie doch vielleicht dazu beitragen, die übertriebenen Besorgnisse zu vermindern,
welche von manchen Seiten geltend gemacht werden.




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[0356] zählung noch im Gange. Die Vollendung derselben wird ebenfalls, wenn irgend möglich, abgewartet werden, ehe man zu neuen Aushebungen schreitet. Freilich kaun die zwingende Nothwendigkeit der Verhältnisse stärker werden, als alle diese Rücksichten. Allein vorerst ist nicht anzunehmen, daß die Peters¬ burger Politik sofort mit besonderem Nachdruck bei ihren Einmischungen in die europäischen Verwicklungen sich auf ihr Heer berufen und an dasselbe appelliren werde. Denn unter allen Umstünden ist sie gegenwärtig nicht in der vollen Gewißheit, einem aggressiven und offensiven Vorgehen desselben, besonders aus den Neichsgrenzen heraus, die erforderliche nachhaltige Wucht geben zu können. Dies hindert natürlich militärische Demonstrationen nicht, welche sich in¬ nerhalb der Neichsgrenzen halten. Man meldet bekanntlich auch schon von Truppenbewegungen gegen Südwesten (Bessarabien, galizische Grenze). Daß dieselben von der polnischen Armee (I.Armee) ausgeführt werden, ist kaum anzunehmen, sie werden dem 4., 5. und 6. Armeecorps zufallen. Jedes der¬ selben hat allerdings einen Kriegssollstand von 44,000 Mann, ihr jetziger wirklicher Bestand kann jedoch schwerlich — auch nach Einberufung der tem¬ porär Beurlaubten — höher als 30,000 Mann angenommen werden. Grade die Südprovinzen sind aber vom letzten Kriege am härtesten mitgenom¬ men worden und die Dislocirungcn breiten sich deshalb auf einer unendlich weiten Fläche aus. Die an sich schon langsame und mühselige Zusammenzie- hung nimmt hier doppelte Arbeit und Zeit in Anspruch. Man kann daher wol die Annahme als richtig gelten lassen, daß unter vier bis fünf Monaten keine Halbweg bedeutende Armee in Bessarabien kriegfertig aufgestellt sein könne. Und auch dann würde dieselbe schwerlich mehr als höchstens 80,000 Mann Effectivstärte haben können, überdies aber immer noch auf einen weiten Raum vertheilt bleiben müssen. Können und sollen nun alle diese Angaben und Betrachtungen nicht etwa die Wichtigkeit eines militärischen Auftretens Rußlands verkleinern, so dürften sie doch vielleicht dazu beitragen, die übertriebenen Besorgnisse zu vermindern, welche von manchen Seiten geltend gemacht werden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/356>, abgerufen am 22.12.2024.