Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

blick wenigstens, geschlossen finde? Auf diesen Zustand unserer Literatur grün¬
det sich die Existenz unserer heutigen (romantischen) Hyperpocten und Hyper-
kritiker, und die Anziehungskraft, die ihr Unwesen sür unsere angehenden
guten Kräfte hat." -- Er macht dann aus die "Erbärmlichkeit" des "Mach¬
werks" aufmerksam, aus dem Goethe seine Fabel geschöpft hat (Memoiren
der Prinzessin v. Bourbon-Conti, vgl. Varnhagens Denkwürdigkeiten). --
"Wir mögen es nicht bergen, wir empfanden mitunter die Poesie der natür¬
lichen Tochter ziemlich so marmorglatt und marmorkalt, wie wir uns die po¬
etischen Säle des poetischen Herzogs und Königs in diesem Drama dachten;
es mischte sich ein geheimer Schmerz in unsere Bewunderung des zierlich edlen
Prunks der Rede, und dieser Schmerz ist es, den wir uns hier zu deuten
versuchen." -- Huber erinnert an Klingers Ausspruch: "Genau genommen,
hören wir nicht eher auf, poetisch zu sein, als bis wir das zu begreifen
suchen, was uns zu Poeten macht." -- In früherer Zeit sei die Poesie ein¬
fach auf Rührung ausgegangen; dann habe man die Empfindung durch Geist
zu veredeln gesucht: "wie aber nennt man die widerstrebende, unbehagliche
Bewunderung, die unsere Meister, seitdem sie die Rührung zum Gespött machen,
"durch ihre neuern Werke in Anspruch nehmen?" -- "Als Kranke erscheint die
Poesie in der natürlichen Tochter, aber als eine holde, schöne Kranke. So
erschien sie schon in Schillers grünt- und bodenlosen Versuchen, die Chöre
und das Fatum der alten Tragödie zu modernisiren. Alle diese Werke zeugen
von dem ernsten und kräftigen Streben des deutschen Genius; darum darf
uns nicht bange sein; sie lebt noch, die Poesie." -- "Die Wirklichkeit macht
nun einmal den modernen Dichter nicht; aber sich über die Wirklichkeit er¬
heben, indem er sich in sie findet, das muß und wird er wieder lernen; er
wird die Reflexion, die ihn einmal von den Dichtern des Alterthums unter¬
scheidet, nicht mehr aus das vergebliche Geschäft, Umgebungen aus dem Nichts
zu erschaffen richten; er wird die Zeit, der er in das Nichts zu entfliehn
suchte, wenn es nicht anders sein kann, zurückstellen auf den rechten Punkt."

Wo es irgend angeht, stichelt er aus Goethes übertriebene Bewunderer;
mit großem Behagen adoptirt er Klingers Ausspruch: "Man streute wol
ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufels¬
dreck zu parfümiren. Ich würde sagen: was für einen Zauber muß Schmeiche¬
lei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt? Aber
ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er
habe diesen Gestank gerochen. Wären Meister und Hermann nicht von so gu¬
tem Athem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein?
Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer
geworden."

Am heftigsten geht es über die romantische Schule her (leider läßt sich


Grenzboten II. 1859. S4

blick wenigstens, geschlossen finde? Auf diesen Zustand unserer Literatur grün¬
det sich die Existenz unserer heutigen (romantischen) Hyperpocten und Hyper-
kritiker, und die Anziehungskraft, die ihr Unwesen sür unsere angehenden
guten Kräfte hat." — Er macht dann aus die „Erbärmlichkeit" des „Mach¬
werks" aufmerksam, aus dem Goethe seine Fabel geschöpft hat (Memoiren
der Prinzessin v. Bourbon-Conti, vgl. Varnhagens Denkwürdigkeiten). —
»Wir mögen es nicht bergen, wir empfanden mitunter die Poesie der natür¬
lichen Tochter ziemlich so marmorglatt und marmorkalt, wie wir uns die po¬
etischen Säle des poetischen Herzogs und Königs in diesem Drama dachten;
es mischte sich ein geheimer Schmerz in unsere Bewunderung des zierlich edlen
Prunks der Rede, und dieser Schmerz ist es, den wir uns hier zu deuten
versuchen." — Huber erinnert an Klingers Ausspruch: „Genau genommen,
hören wir nicht eher auf, poetisch zu sein, als bis wir das zu begreifen
suchen, was uns zu Poeten macht." — In früherer Zeit sei die Poesie ein¬
fach auf Rührung ausgegangen; dann habe man die Empfindung durch Geist
zu veredeln gesucht: „wie aber nennt man die widerstrebende, unbehagliche
Bewunderung, die unsere Meister, seitdem sie die Rührung zum Gespött machen,
„durch ihre neuern Werke in Anspruch nehmen?" — „Als Kranke erscheint die
Poesie in der natürlichen Tochter, aber als eine holde, schöne Kranke. So
erschien sie schon in Schillers grünt- und bodenlosen Versuchen, die Chöre
und das Fatum der alten Tragödie zu modernisiren. Alle diese Werke zeugen
von dem ernsten und kräftigen Streben des deutschen Genius; darum darf
uns nicht bange sein; sie lebt noch, die Poesie." — „Die Wirklichkeit macht
nun einmal den modernen Dichter nicht; aber sich über die Wirklichkeit er¬
heben, indem er sich in sie findet, das muß und wird er wieder lernen; er
wird die Reflexion, die ihn einmal von den Dichtern des Alterthums unter¬
scheidet, nicht mehr aus das vergebliche Geschäft, Umgebungen aus dem Nichts
zu erschaffen richten; er wird die Zeit, der er in das Nichts zu entfliehn
suchte, wenn es nicht anders sein kann, zurückstellen auf den rechten Punkt."

Wo es irgend angeht, stichelt er aus Goethes übertriebene Bewunderer;
mit großem Behagen adoptirt er Klingers Ausspruch: „Man streute wol
ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufels¬
dreck zu parfümiren. Ich würde sagen: was für einen Zauber muß Schmeiche¬
lei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt? Aber
ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er
habe diesen Gestank gerochen. Wären Meister und Hermann nicht von so gu¬
tem Athem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein?
Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer
geworden."

Am heftigsten geht es über die romantische Schule her (leider läßt sich


Grenzboten II. 1859. S4
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0275" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/107322"/>
            <p xml:id="ID_788" prev="#ID_787"> blick wenigstens, geschlossen finde? Auf diesen Zustand unserer Literatur grün¬<lb/>
det sich die Existenz unserer heutigen (romantischen) Hyperpocten und Hyper-<lb/>
kritiker, und die Anziehungskraft, die ihr Unwesen sür unsere angehenden<lb/>
guten Kräfte hat." &#x2014; Er macht dann aus die &#x201E;Erbärmlichkeit" des &#x201E;Mach¬<lb/>
werks" aufmerksam, aus dem Goethe seine Fabel geschöpft hat (Memoiren<lb/>
der Prinzessin v. Bourbon-Conti, vgl. Varnhagens Denkwürdigkeiten). &#x2014;<lb/>
»Wir mögen es nicht bergen, wir empfanden mitunter die Poesie der natür¬<lb/>
lichen Tochter ziemlich so marmorglatt und marmorkalt, wie wir uns die po¬<lb/>
etischen Säle des poetischen Herzogs und Königs in diesem Drama dachten;<lb/>
es mischte sich ein geheimer Schmerz in unsere Bewunderung des zierlich edlen<lb/>
Prunks der Rede, und dieser Schmerz ist es, den wir uns hier zu deuten<lb/>
versuchen." &#x2014; Huber erinnert an Klingers Ausspruch: &#x201E;Genau genommen,<lb/>
hören wir nicht eher auf, poetisch zu sein, als bis wir das zu begreifen<lb/>
suchen, was uns zu Poeten macht." &#x2014; In früherer Zeit sei die Poesie ein¬<lb/>
fach auf Rührung ausgegangen; dann habe man die Empfindung durch Geist<lb/>
zu veredeln gesucht: &#x201E;wie aber nennt man die widerstrebende, unbehagliche<lb/>
Bewunderung, die unsere Meister, seitdem sie die Rührung zum Gespött machen,<lb/>
&#x201E;durch ihre neuern Werke in Anspruch nehmen?" &#x2014; &#x201E;Als Kranke erscheint die<lb/>
Poesie in der natürlichen Tochter, aber als eine holde, schöne Kranke. So<lb/>
erschien sie schon in Schillers grünt- und bodenlosen Versuchen, die Chöre<lb/>
und das Fatum der alten Tragödie zu modernisiren. Alle diese Werke zeugen<lb/>
von dem ernsten und kräftigen Streben des deutschen Genius; darum darf<lb/>
uns nicht bange sein; sie lebt noch, die Poesie." &#x2014; &#x201E;Die Wirklichkeit macht<lb/>
nun einmal den modernen Dichter nicht; aber sich über die Wirklichkeit er¬<lb/>
heben, indem er sich in sie findet, das muß und wird er wieder lernen; er<lb/>
wird die Reflexion, die ihn einmal von den Dichtern des Alterthums unter¬<lb/>
scheidet, nicht mehr aus das vergebliche Geschäft, Umgebungen aus dem Nichts<lb/>
zu erschaffen richten; er wird die Zeit, der er in das Nichts zu entfliehn<lb/>
suchte, wenn es nicht anders sein kann, zurückstellen auf den rechten Punkt."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_789"> Wo es irgend angeht, stichelt er aus Goethes übertriebene Bewunderer;<lb/>
mit großem Behagen adoptirt er Klingers Ausspruch: &#x201E;Man streute wol<lb/>
ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufels¬<lb/>
dreck zu parfümiren. Ich würde sagen: was für einen Zauber muß Schmeiche¬<lb/>
lei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt? Aber<lb/>
ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er<lb/>
habe diesen Gestank gerochen. Wären Meister und Hermann nicht von so gu¬<lb/>
tem Athem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein?<lb/>
Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer<lb/>
geworden."</p><lb/>
            <p xml:id="ID_790" next="#ID_791"> Am heftigsten geht es über die romantische Schule her (leider läßt sich</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten II. 1859. S4</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0275] blick wenigstens, geschlossen finde? Auf diesen Zustand unserer Literatur grün¬ det sich die Existenz unserer heutigen (romantischen) Hyperpocten und Hyper- kritiker, und die Anziehungskraft, die ihr Unwesen sür unsere angehenden guten Kräfte hat." — Er macht dann aus die „Erbärmlichkeit" des „Mach¬ werks" aufmerksam, aus dem Goethe seine Fabel geschöpft hat (Memoiren der Prinzessin v. Bourbon-Conti, vgl. Varnhagens Denkwürdigkeiten). — »Wir mögen es nicht bergen, wir empfanden mitunter die Poesie der natür¬ lichen Tochter ziemlich so marmorglatt und marmorkalt, wie wir uns die po¬ etischen Säle des poetischen Herzogs und Königs in diesem Drama dachten; es mischte sich ein geheimer Schmerz in unsere Bewunderung des zierlich edlen Prunks der Rede, und dieser Schmerz ist es, den wir uns hier zu deuten versuchen." — Huber erinnert an Klingers Ausspruch: „Genau genommen, hören wir nicht eher auf, poetisch zu sein, als bis wir das zu begreifen suchen, was uns zu Poeten macht." — In früherer Zeit sei die Poesie ein¬ fach auf Rührung ausgegangen; dann habe man die Empfindung durch Geist zu veredeln gesucht: „wie aber nennt man die widerstrebende, unbehagliche Bewunderung, die unsere Meister, seitdem sie die Rührung zum Gespött machen, „durch ihre neuern Werke in Anspruch nehmen?" — „Als Kranke erscheint die Poesie in der natürlichen Tochter, aber als eine holde, schöne Kranke. So erschien sie schon in Schillers grünt- und bodenlosen Versuchen, die Chöre und das Fatum der alten Tragödie zu modernisiren. Alle diese Werke zeugen von dem ernsten und kräftigen Streben des deutschen Genius; darum darf uns nicht bange sein; sie lebt noch, die Poesie." — „Die Wirklichkeit macht nun einmal den modernen Dichter nicht; aber sich über die Wirklichkeit er¬ heben, indem er sich in sie findet, das muß und wird er wieder lernen; er wird die Reflexion, die ihn einmal von den Dichtern des Alterthums unter¬ scheidet, nicht mehr aus das vergebliche Geschäft, Umgebungen aus dem Nichts zu erschaffen richten; er wird die Zeit, der er in das Nichts zu entfliehn suchte, wenn es nicht anders sein kann, zurückstellen auf den rechten Punkt." Wo es irgend angeht, stichelt er aus Goethes übertriebene Bewunderer; mit großem Behagen adoptirt er Klingers Ausspruch: „Man streute wol ehemals Goethen Weihrauch; jetzt aber erkühnen sich Knaben, ihn mit Teufels¬ dreck zu parfümiren. Ich würde sagen: was für einen Zauber muß Schmeiche¬ lei mit sich führen, da Goethe nicht an einem solchen Gestank erstickt? Aber ich denke zu gut von ihm, als daß ich einen Augenblick glauben sollte, er habe diesen Gestank gerochen. Wären Meister und Hermann nicht von so gu¬ tem Athem, wie würde es ihnen unter einem solchen Rauchfaß ergangen sein? Und doch glauben verständige Leute zu bemerken, ihre Farbe sei etwas blässer geworden." Am heftigsten geht es über die romantische Schule her (leider läßt sich Grenzboten II. 1859. S4

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/275
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/275>, abgerufen am 22.12.2024.