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Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band.

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Sie besaßen noch weiter Vorrechte im Mittelalter: wird über die Höhe
des Darlehens gestritten, so beschwört sie der Jude, wenn nicht der Schuld¬
ner den Beweis mit christlichen und jüdischen Zeugen leisten kann. Hatte ein
Christ eine Sache verkauft und erhob sich zwischen dem Käufer und einer
dritten Person Streit über das Recht an der Sache, so mußte der Verkäufer
den Käufer im Proceß vertreten und ihm Gewährschaft leisten. Von dem
Juden, welcher auch gestohlene Sachen kaufen kann und sie nicht unter allen
Umständen herauszugeben braucht, kann man nicht dasselbe verlangen: er
leistet Gewährschaft. wenn er will.

Während also das Privatrecht des Mittelalters ihnen manche Vortheile
gegen die Christen gab, schränkte die spätere Reichsgesetzgebung sie immer
mehr ein. Forderungen gegen Christen sollen sie nicht an anvere Christen
cediren dürfen, weil der Christ eine angesehenere Person ist und Mittel in
den Händen hat, den Schuldner mehr zu bedrängen. Um jedem betrügerischen
Geschüft zu begegnen, sollen die Juden, ebenso wie man für die Bauern die
Gerichtlichkeit der Verträge bestimmte, ihre Obligationen vor der christlichen
Obrigkeit aufrichten.

Dies war die rechtliche und materielle Stellung der Juden im Mittel¬
alter. Aber weder die Gesetze, noch der kaiserliche Schutz, noch ihr Reich¬
thum konnte sie der Verachtung und dem Hasse entziehen, mit welchem das
niedere Volk sie verfolgte. Wenn auch der Kaiser und die größeren Landes¬
herrn sie zu schützen und Excesse gegen sie nicht zu begünstigen pflegten, so
erging sich doch die bis zum Fanatismus intolerante Geistlichkeit, der rohe
und beutelustige Adel und der auf ihre Reichthümer neidische, von ihrem
Wucher hart bedrängte niedere Bürgerstand in den grausamsten Gewaltthaten
gegen sie. Bis zum Ende'des elften Jahrhunderts scheinen sie überall in Deutsch¬
land ein ziemlich friedliches, gesichertes Leben geführt zu haben; von dieser
Zeit an beginnen im Gefolge der Kreuzzüge die barbarischesten Verfolgungen
in allen Städten, in welchen sie in größerer Zahl angesessen waren. Sie
werden aus ihren Wohnsitzen vertrieben, ihre Güter confiscire, ihre Häuser
den Flammen Preis gegeben; zu Hunderten, ja Tausenden werden sie nieder¬
gemacht oder sterben den Feuertod; die Synagogen reißt man nieder, um an
ihrer Stelle christliche Kapellen zu erbauen, ja selbst die Leichensteine ihrer
Todtenhöfe verwendet man mit Erlaubniß der Landesherrn zum Festungsbau.
Um das Judenthum ganz zu vernichten, nimmt man ihnen ihre jungen Kin¬
der, tauft sie und erzieht sie zum christlichen Glauben. Man scheute keine
Gewaltthat, kein Verbrechen und nirgend tritt die Gewalt der Kaiser oder
der Landesherrn den maßlos verübten Greueln kräftig gegenüber, nirgend
wird ein strenges Strafgericht über die Mörder und Räuber abgehalten; die


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Sie besaßen noch weiter Vorrechte im Mittelalter: wird über die Höhe
des Darlehens gestritten, so beschwört sie der Jude, wenn nicht der Schuld¬
ner den Beweis mit christlichen und jüdischen Zeugen leisten kann. Hatte ein
Christ eine Sache verkauft und erhob sich zwischen dem Käufer und einer
dritten Person Streit über das Recht an der Sache, so mußte der Verkäufer
den Käufer im Proceß vertreten und ihm Gewährschaft leisten. Von dem
Juden, welcher auch gestohlene Sachen kaufen kann und sie nicht unter allen
Umständen herauszugeben braucht, kann man nicht dasselbe verlangen: er
leistet Gewährschaft. wenn er will.

Während also das Privatrecht des Mittelalters ihnen manche Vortheile
gegen die Christen gab, schränkte die spätere Reichsgesetzgebung sie immer
mehr ein. Forderungen gegen Christen sollen sie nicht an anvere Christen
cediren dürfen, weil der Christ eine angesehenere Person ist und Mittel in
den Händen hat, den Schuldner mehr zu bedrängen. Um jedem betrügerischen
Geschüft zu begegnen, sollen die Juden, ebenso wie man für die Bauern die
Gerichtlichkeit der Verträge bestimmte, ihre Obligationen vor der christlichen
Obrigkeit aufrichten.

Dies war die rechtliche und materielle Stellung der Juden im Mittel¬
alter. Aber weder die Gesetze, noch der kaiserliche Schutz, noch ihr Reich¬
thum konnte sie der Verachtung und dem Hasse entziehen, mit welchem das
niedere Volk sie verfolgte. Wenn auch der Kaiser und die größeren Landes¬
herrn sie zu schützen und Excesse gegen sie nicht zu begünstigen pflegten, so
erging sich doch die bis zum Fanatismus intolerante Geistlichkeit, der rohe
und beutelustige Adel und der auf ihre Reichthümer neidische, von ihrem
Wucher hart bedrängte niedere Bürgerstand in den grausamsten Gewaltthaten
gegen sie. Bis zum Ende'des elften Jahrhunderts scheinen sie überall in Deutsch¬
land ein ziemlich friedliches, gesichertes Leben geführt zu haben; von dieser
Zeit an beginnen im Gefolge der Kreuzzüge die barbarischesten Verfolgungen
in allen Städten, in welchen sie in größerer Zahl angesessen waren. Sie
werden aus ihren Wohnsitzen vertrieben, ihre Güter confiscire, ihre Häuser
den Flammen Preis gegeben; zu Hunderten, ja Tausenden werden sie nieder¬
gemacht oder sterben den Feuertod; die Synagogen reißt man nieder, um an
ihrer Stelle christliche Kapellen zu erbauen, ja selbst die Leichensteine ihrer
Todtenhöfe verwendet man mit Erlaubniß der Landesherrn zum Festungsbau.
Um das Judenthum ganz zu vernichten, nimmt man ihnen ihre jungen Kin¬
der, tauft sie und erzieht sie zum christlichen Glauben. Man scheute keine
Gewaltthat, kein Verbrechen und nirgend tritt die Gewalt der Kaiser oder
der Landesherrn den maßlos verübten Greueln kräftig gegenüber, nirgend
wird ein strenges Strafgericht über die Mörder und Räuber abgehalten; die


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[0149] Sie besaßen noch weiter Vorrechte im Mittelalter: wird über die Höhe des Darlehens gestritten, so beschwört sie der Jude, wenn nicht der Schuld¬ ner den Beweis mit christlichen und jüdischen Zeugen leisten kann. Hatte ein Christ eine Sache verkauft und erhob sich zwischen dem Käufer und einer dritten Person Streit über das Recht an der Sache, so mußte der Verkäufer den Käufer im Proceß vertreten und ihm Gewährschaft leisten. Von dem Juden, welcher auch gestohlene Sachen kaufen kann und sie nicht unter allen Umständen herauszugeben braucht, kann man nicht dasselbe verlangen: er leistet Gewährschaft. wenn er will. Während also das Privatrecht des Mittelalters ihnen manche Vortheile gegen die Christen gab, schränkte die spätere Reichsgesetzgebung sie immer mehr ein. Forderungen gegen Christen sollen sie nicht an anvere Christen cediren dürfen, weil der Christ eine angesehenere Person ist und Mittel in den Händen hat, den Schuldner mehr zu bedrängen. Um jedem betrügerischen Geschüft zu begegnen, sollen die Juden, ebenso wie man für die Bauern die Gerichtlichkeit der Verträge bestimmte, ihre Obligationen vor der christlichen Obrigkeit aufrichten. Dies war die rechtliche und materielle Stellung der Juden im Mittel¬ alter. Aber weder die Gesetze, noch der kaiserliche Schutz, noch ihr Reich¬ thum konnte sie der Verachtung und dem Hasse entziehen, mit welchem das niedere Volk sie verfolgte. Wenn auch der Kaiser und die größeren Landes¬ herrn sie zu schützen und Excesse gegen sie nicht zu begünstigen pflegten, so erging sich doch die bis zum Fanatismus intolerante Geistlichkeit, der rohe und beutelustige Adel und der auf ihre Reichthümer neidische, von ihrem Wucher hart bedrängte niedere Bürgerstand in den grausamsten Gewaltthaten gegen sie. Bis zum Ende'des elften Jahrhunderts scheinen sie überall in Deutsch¬ land ein ziemlich friedliches, gesichertes Leben geführt zu haben; von dieser Zeit an beginnen im Gefolge der Kreuzzüge die barbarischesten Verfolgungen in allen Städten, in welchen sie in größerer Zahl angesessen waren. Sie werden aus ihren Wohnsitzen vertrieben, ihre Güter confiscire, ihre Häuser den Flammen Preis gegeben; zu Hunderten, ja Tausenden werden sie nieder¬ gemacht oder sterben den Feuertod; die Synagogen reißt man nieder, um an ihrer Stelle christliche Kapellen zu erbauen, ja selbst die Leichensteine ihrer Todtenhöfe verwendet man mit Erlaubniß der Landesherrn zum Festungsbau. Um das Judenthum ganz zu vernichten, nimmt man ihnen ihre jungen Kin¬ der, tauft sie und erzieht sie zum christlichen Glauben. Man scheute keine Gewaltthat, kein Verbrechen und nirgend tritt die Gewalt der Kaiser oder der Landesherrn den maßlos verübten Greueln kräftig gegenüber, nirgend wird ein strenges Strafgericht über die Mörder und Räuber abgehalten; die 18*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 18, 1859, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341590_107046/149>, abgerufen am 22.12.2024.