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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Gemeinplätze des Tages ein, und weil seine glühende Beredsamkeit dem Jn-
stinct der Menge huldigte, glaubte sie wol gar, ihm den Namen eines Dich¬
ters absprechen zu dürfen, da der echte Dichter sich nur in höheren, der Welt
unverständlichen Gefühlen bewege. Wenn diese Ansicht während der ganzen
Restaurationszeit die tonangebende blieb, so war auch das neue Geschlecht,
das nach der Julirevolution die Führung der Literatur übernahm, ihr keines¬
wegs abhold; nur wußte es ihr eine andre Wendung zu geben. War man
früher bedenklich gegen den Demagogen Marquis Posa, so zuckte man jetzt
über den moralischen Pedanten Max Piccolomim die Achseln; man fand den
Dichtet zu sehr in den sittlichen Vorurtheilen der Vergangenheit befangen,
man vermißte bei ihm jene liebenswürdige Frivolität, die man in der jungem
Schule Frankreichs so sehr bewunderte, und von der Goethes Schriften so er¬
freuliche Spuren zeigten.

Als nun das Vaterland wieder zu Ehren kam, änderte sich damit die
öffentliche Stimmung über den Dichter. Es wurde wieder viel von Freiheit,
Tugend und Vaterland gesprochen, man machte darauf aufmerksam, daß Goethe
ein Fürstendiener, daß er der Dichter der Philine gewesen sei, und daß er auf
die Erhebung des Volks in den Freiheitskriegen nicht viel gegeben habe. Was
man früher Schiller zum Vorwurf gemacht, wurde jetzt der Grundstein seines
Ruhms. Schriftsteller der verschiedensten Farbe waren darin einig, z. B.
Wolfgang Menzel, Börne, und wie es bei Stichwörtern zu geschehen pflegt,
die man häusig wiederholt, ohne -sie grade näher zu erörtern: zuletzt war
die Masse davon überzeugt, daß Schiller der Dichter der Freiheit, der
Tugend und des Vaterlandes sei, und je nachdem man für diese Begriffe
schwärmte oder nicht, rechnete man sich unter die eifrigen Jünger oder Geg¬
ner des Dichters.

Es ist ganz merkwürdig, wie bei einem Schriftsteller, dessen Balladen jeder
Quartaner, dessen Trauerspiele jeder Tertianer auswendig weiß, ein solches
Vorurtheil sich einem Nebel gleich so weit ausbreiten konnte, daß man seine
wirkliche Physiognomie gar nicht wiedererkennt. Wer unsern Dichter ohne
Brille liest, wird freilich bald gewahr, daß es sich bei ihm nicht blos um
Freiheit, Tugend und Vaterland handelt, daß der Dichter des Marquis Posa
nicht blos über die französische Revolution, sondern über das politische Wesen
überhaupt in einer Zeit, wo seine Kraft am vollsten blühte, sich sehr gering¬
schätzig aussprach, daß Laura nicht blos früher, sondern auch natürlicher bei
ihm auftritt als Thekla, und daß vom Vaterland bei ihm überhaupt keine
Rede ist. Aber es war schwer, die Brillen zu vermeiden, da gefeierte Volks¬
redner, wenn sie die politischen Leidenschaften aufstachelten, unablässig auf
Schillers Vorbild hinwiesen, während die entgegengesetzte Richtung sich über
diesen Dichter sehr bedenklich aussprach.


Gemeinplätze des Tages ein, und weil seine glühende Beredsamkeit dem Jn-
stinct der Menge huldigte, glaubte sie wol gar, ihm den Namen eines Dich¬
ters absprechen zu dürfen, da der echte Dichter sich nur in höheren, der Welt
unverständlichen Gefühlen bewege. Wenn diese Ansicht während der ganzen
Restaurationszeit die tonangebende blieb, so war auch das neue Geschlecht,
das nach der Julirevolution die Führung der Literatur übernahm, ihr keines¬
wegs abhold; nur wußte es ihr eine andre Wendung zu geben. War man
früher bedenklich gegen den Demagogen Marquis Posa, so zuckte man jetzt
über den moralischen Pedanten Max Piccolomim die Achseln; man fand den
Dichtet zu sehr in den sittlichen Vorurtheilen der Vergangenheit befangen,
man vermißte bei ihm jene liebenswürdige Frivolität, die man in der jungem
Schule Frankreichs so sehr bewunderte, und von der Goethes Schriften so er¬
freuliche Spuren zeigten.

Als nun das Vaterland wieder zu Ehren kam, änderte sich damit die
öffentliche Stimmung über den Dichter. Es wurde wieder viel von Freiheit,
Tugend und Vaterland gesprochen, man machte darauf aufmerksam, daß Goethe
ein Fürstendiener, daß er der Dichter der Philine gewesen sei, und daß er auf
die Erhebung des Volks in den Freiheitskriegen nicht viel gegeben habe. Was
man früher Schiller zum Vorwurf gemacht, wurde jetzt der Grundstein seines
Ruhms. Schriftsteller der verschiedensten Farbe waren darin einig, z. B.
Wolfgang Menzel, Börne, und wie es bei Stichwörtern zu geschehen pflegt,
die man häusig wiederholt, ohne -sie grade näher zu erörtern: zuletzt war
die Masse davon überzeugt, daß Schiller der Dichter der Freiheit, der
Tugend und des Vaterlandes sei, und je nachdem man für diese Begriffe
schwärmte oder nicht, rechnete man sich unter die eifrigen Jünger oder Geg¬
ner des Dichters.

Es ist ganz merkwürdig, wie bei einem Schriftsteller, dessen Balladen jeder
Quartaner, dessen Trauerspiele jeder Tertianer auswendig weiß, ein solches
Vorurtheil sich einem Nebel gleich so weit ausbreiten konnte, daß man seine
wirkliche Physiognomie gar nicht wiedererkennt. Wer unsern Dichter ohne
Brille liest, wird freilich bald gewahr, daß es sich bei ihm nicht blos um
Freiheit, Tugend und Vaterland handelt, daß der Dichter des Marquis Posa
nicht blos über die französische Revolution, sondern über das politische Wesen
überhaupt in einer Zeit, wo seine Kraft am vollsten blühte, sich sehr gering¬
schätzig aussprach, daß Laura nicht blos früher, sondern auch natürlicher bei
ihm auftritt als Thekla, und daß vom Vaterland bei ihm überhaupt keine
Rede ist. Aber es war schwer, die Brillen zu vermeiden, da gefeierte Volks¬
redner, wenn sie die politischen Leidenschaften aufstachelten, unablässig auf
Schillers Vorbild hinwiesen, während die entgegengesetzte Richtung sich über
diesen Dichter sehr bedenklich aussprach.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/410>, abgerufen am 30.06.2024.