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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Brücken verbinden die getrennten, vom Rechtwinkelsystem jetzt nothgedrungen
abweichenden Straßen. Was im Ganzen die Kunst der Stadt versagt hat,
ersetzt hier die Natur reichlich durch pittoreske Scenen, welche der Blick von
den Brücken eröffnet. Hier ragen gefahrdrohend über das hohe steile Ufer
kühne Wohnungen der Menschen, spottend des Abgrundes; dort weitet sich
das Bett aus und die schiefen Wände überwuchert ein junges Geschlecht von
feingefiederten Mimosen, deren Zweige sich oben schirmartig abrunden, und
von üppigen Schlingpflanzen, die sich neckisch um eine kahle Ruine ranken.
In trauter Nachbarschaft gesellen sich dazu die weit verstreuten Trümmer des
Erdbebens von 1812. Halb verfallene blinde Mauern, hinter denen die gold¬
gelben Blumen der Baumwollenstaude neugierig hervorgucken, hohe Stein-
und Schutthaufen um ein verödetes Gitterfenster, über denen der stachlichte
Cactus seine Blüten entfaltet -- zum Zeichen des Lebens, welches der Tod
gebiert -- und zahlreiche Ruinen, zwischen denen ein nachgeborncs Geschlecht
wieder seine Wohnungen, ja ganze Straßen gebaut hat, kennzeichnen den
oberen Theil der Stadt von der Kathedrale an bis hinauf zu den langen
einsamen Mauern der alten, jetzt im Wiederaufbau begriffenen Kaserne nahe
den Bergen.

Unweit letzterer erhebt sich die kleine neue Kirche von San Trinidad.
Sie ist schmuck und nett, aber wie die niedrige Kathedrale und alle übrigen
Kirchen, ohne Stil erbaut. Aus erhöhtem freien Platz gelegen beherrscht sie
die Stadt. Dorthin strebt unser Fuß. Schon haben wir die alte Brücke von
San Trinidad erreicht. Sie ist allabendlich der Sammelplatz von Jung und
Alt und bis spät stummer Zeuge der Possen und Schwänke, in denen ein
muntres, lebenslustiges Volk von Negern, Mulatten, Mestizen und Zambos
sich ergeht.

Noch wenige Schritte hinauf an den Häusern hin, und wir stehen vor
der Kirche. Ein glutrother Schein lagert sich bereits auf Stadt und Thal.
Goldne Wolkenberge thürmen sich über dem westlichen Horizont. Beflügel¬
ten Schrittes eilt die Sonne hinab dem Meere zu. Noch ist Heller Tag, ein
Feuermeer in allen Mischungen der Farben entzündet der Wolken bizarre Ge¬
bilde. Noch wenig Minuten, der Held hat den Lauf durch seine Lieblingszone
von Pol zu Pol vollendet, und Stadt und Thal umfängt mit Riesenarm der
kühle Schatten. Aber noch stammen die Berge in Tagesschein. Mit dem
uralten Recht, nach welchem sie der erste Strahl der Morgenröthe küßt, ban¬
nen sie auch den scheidenden Tag länger und gestatten der Nacht nur allmälig
ihre Schwingen über das Schutzbefohlene Thal zu breiten. Von himmlischer
Klarheit umflossen leuchten ti" urwaldgekröntcn Scheitel der Küstenbergkette
hoch oben vor uns, keine Wolke verhüllt die kühn geschwungenen Linien;
aber höher und höher steigt die scharfe Schattenlinie, sonder Rast und unauf-


Grenzboten IV. 1353. 45

Brücken verbinden die getrennten, vom Rechtwinkelsystem jetzt nothgedrungen
abweichenden Straßen. Was im Ganzen die Kunst der Stadt versagt hat,
ersetzt hier die Natur reichlich durch pittoreske Scenen, welche der Blick von
den Brücken eröffnet. Hier ragen gefahrdrohend über das hohe steile Ufer
kühne Wohnungen der Menschen, spottend des Abgrundes; dort weitet sich
das Bett aus und die schiefen Wände überwuchert ein junges Geschlecht von
feingefiederten Mimosen, deren Zweige sich oben schirmartig abrunden, und
von üppigen Schlingpflanzen, die sich neckisch um eine kahle Ruine ranken.
In trauter Nachbarschaft gesellen sich dazu die weit verstreuten Trümmer des
Erdbebens von 1812. Halb verfallene blinde Mauern, hinter denen die gold¬
gelben Blumen der Baumwollenstaude neugierig hervorgucken, hohe Stein-
und Schutthaufen um ein verödetes Gitterfenster, über denen der stachlichte
Cactus seine Blüten entfaltet — zum Zeichen des Lebens, welches der Tod
gebiert — und zahlreiche Ruinen, zwischen denen ein nachgeborncs Geschlecht
wieder seine Wohnungen, ja ganze Straßen gebaut hat, kennzeichnen den
oberen Theil der Stadt von der Kathedrale an bis hinauf zu den langen
einsamen Mauern der alten, jetzt im Wiederaufbau begriffenen Kaserne nahe
den Bergen.

Unweit letzterer erhebt sich die kleine neue Kirche von San Trinidad.
Sie ist schmuck und nett, aber wie die niedrige Kathedrale und alle übrigen
Kirchen, ohne Stil erbaut. Aus erhöhtem freien Platz gelegen beherrscht sie
die Stadt. Dorthin strebt unser Fuß. Schon haben wir die alte Brücke von
San Trinidad erreicht. Sie ist allabendlich der Sammelplatz von Jung und
Alt und bis spät stummer Zeuge der Possen und Schwänke, in denen ein
muntres, lebenslustiges Volk von Negern, Mulatten, Mestizen und Zambos
sich ergeht.

Noch wenige Schritte hinauf an den Häusern hin, und wir stehen vor
der Kirche. Ein glutrother Schein lagert sich bereits auf Stadt und Thal.
Goldne Wolkenberge thürmen sich über dem westlichen Horizont. Beflügel¬
ten Schrittes eilt die Sonne hinab dem Meere zu. Noch ist Heller Tag, ein
Feuermeer in allen Mischungen der Farben entzündet der Wolken bizarre Ge¬
bilde. Noch wenig Minuten, der Held hat den Lauf durch seine Lieblingszone
von Pol zu Pol vollendet, und Stadt und Thal umfängt mit Riesenarm der
kühle Schatten. Aber noch stammen die Berge in Tagesschein. Mit dem
uralten Recht, nach welchem sie der erste Strahl der Morgenröthe küßt, ban¬
nen sie auch den scheidenden Tag länger und gestatten der Nacht nur allmälig
ihre Schwingen über das Schutzbefohlene Thal zu breiten. Von himmlischer
Klarheit umflossen leuchten ti« urwaldgekröntcn Scheitel der Küstenbergkette
hoch oben vor uns, keine Wolke verhüllt die kühn geschwungenen Linien;
aber höher und höher steigt die scharfe Schattenlinie, sonder Rast und unauf-


Grenzboten IV. 1353. 45
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[0361] Brücken verbinden die getrennten, vom Rechtwinkelsystem jetzt nothgedrungen abweichenden Straßen. Was im Ganzen die Kunst der Stadt versagt hat, ersetzt hier die Natur reichlich durch pittoreske Scenen, welche der Blick von den Brücken eröffnet. Hier ragen gefahrdrohend über das hohe steile Ufer kühne Wohnungen der Menschen, spottend des Abgrundes; dort weitet sich das Bett aus und die schiefen Wände überwuchert ein junges Geschlecht von feingefiederten Mimosen, deren Zweige sich oben schirmartig abrunden, und von üppigen Schlingpflanzen, die sich neckisch um eine kahle Ruine ranken. In trauter Nachbarschaft gesellen sich dazu die weit verstreuten Trümmer des Erdbebens von 1812. Halb verfallene blinde Mauern, hinter denen die gold¬ gelben Blumen der Baumwollenstaude neugierig hervorgucken, hohe Stein- und Schutthaufen um ein verödetes Gitterfenster, über denen der stachlichte Cactus seine Blüten entfaltet — zum Zeichen des Lebens, welches der Tod gebiert — und zahlreiche Ruinen, zwischen denen ein nachgeborncs Geschlecht wieder seine Wohnungen, ja ganze Straßen gebaut hat, kennzeichnen den oberen Theil der Stadt von der Kathedrale an bis hinauf zu den langen einsamen Mauern der alten, jetzt im Wiederaufbau begriffenen Kaserne nahe den Bergen. Unweit letzterer erhebt sich die kleine neue Kirche von San Trinidad. Sie ist schmuck und nett, aber wie die niedrige Kathedrale und alle übrigen Kirchen, ohne Stil erbaut. Aus erhöhtem freien Platz gelegen beherrscht sie die Stadt. Dorthin strebt unser Fuß. Schon haben wir die alte Brücke von San Trinidad erreicht. Sie ist allabendlich der Sammelplatz von Jung und Alt und bis spät stummer Zeuge der Possen und Schwänke, in denen ein muntres, lebenslustiges Volk von Negern, Mulatten, Mestizen und Zambos sich ergeht. Noch wenige Schritte hinauf an den Häusern hin, und wir stehen vor der Kirche. Ein glutrother Schein lagert sich bereits auf Stadt und Thal. Goldne Wolkenberge thürmen sich über dem westlichen Horizont. Beflügel¬ ten Schrittes eilt die Sonne hinab dem Meere zu. Noch ist Heller Tag, ein Feuermeer in allen Mischungen der Farben entzündet der Wolken bizarre Ge¬ bilde. Noch wenig Minuten, der Held hat den Lauf durch seine Lieblingszone von Pol zu Pol vollendet, und Stadt und Thal umfängt mit Riesenarm der kühle Schatten. Aber noch stammen die Berge in Tagesschein. Mit dem uralten Recht, nach welchem sie der erste Strahl der Morgenröthe küßt, ban¬ nen sie auch den scheidenden Tag länger und gestatten der Nacht nur allmälig ihre Schwingen über das Schutzbefohlene Thal zu breiten. Von himmlischer Klarheit umflossen leuchten ti« urwaldgekröntcn Scheitel der Küstenbergkette hoch oben vor uns, keine Wolke verhüllt die kühn geschwungenen Linien; aber höher und höher steigt die scharfe Schattenlinie, sonder Rast und unauf- Grenzboten IV. 1353. 45

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/361>, abgerufen am 26.07.2024.