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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Gegenwart Italiens zu stören, oder wenn man sich doch um die sittlichen,
religiösen und politischen Zustände des Landes kümmerte, so wurden sie in
der Regel mit der objectiven Ruhe betrachtet, mit der der Antiquar oder der
Naturforscher seinen Gegenstand zergliedert. Höchstens machte sich hin und
wieder das protestantische Bewußtsein gegenüber den Mißbräuchen des Katho¬
licismus geltend. Aus diesem behaglichen Zustand wurden die Gemüther
durch die welterschütternden Umwälzungen in Frankreich aufgeschreckt. Ein
grelles Licht war nun plötzlich aus Gebiete gefallen, auf die man früher die
Augen zu richten theils verschmäht, theils nicht gewagt hatte. Die Bedeu¬
tung der Vorgänge im politischen und religiösen Leben der Völker drängte
sich nun mit Gewalt auch dem widerwilligen Blick auf, und wenn die Auffas¬
sung je nach dem Standpunkt des Betrachters verschieden, ja entgegengesetzt
war, so traten nun die Gegensätze, die früher kaum bemerkbar waren, um so
schroffer und schärfer hervor. Die früher mit Gleichgiltigkeit betrachteten oder
geflissentlich übersehenen Zustände wurden nun Gegenstände des lebhaftesten
sittlichen Antheils, man suchte und fand ihre Gründe, nahm für und wider
Partei, entschuldigte oder verdammte. Seitdem auch Italien von der allge¬
meinen Weltbewegung ergriffen war, der classische Boden von französischen
Waffen wiederhallte, war es vollends nicht mehr möglich, sich gegen die Ge¬
genwart abzuschließen. Bald wurde auch Neapel der Schauplatz von Greueln,
die die furchtbarsten Scenen der Septembertage an Scheußlichkeit unendlich
übertrafen.

Die Reise Friedrich Leopolds von Stolberg (in Deutschland, der Schweiz,
Italien und Sicilien 1791 und 1792, erschienen 1794) ist die erste, die in
diese Periode fallt. Es ist bekannt, wie sein edles aber schwaches Gemüth,
von den Stürmen der Revolution aufs tiefste erschüttert, nach einem Halt
suchte, den es endlich in dem Dogma der alleinseligmachenden Kirche fand.
I. H. Voß hat diese Bekehrung ohne Nachsicht, aber wahr in der Schrift
"Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier" geschildert. In den italienischen
Reisen des Grafen fehlt es nicht an Aeußerungen, die den Zustand seiner
Seele verrathen. Er betont zwar mehrmals seinen Protestantismus, aber
wenn er sich mißbilligend über einen katholischen Aberglauben äußert, so ge¬
schieht es nie ohne eine noch stärkere Verdammung des Voltairischen "Köhler¬
unglaubens" (ein Lieblingsausdruck) hinzuzufügen. Auf der Hinreise sah er
dle Gebeine des heiligen Apollinaris zweimal, zuerst in Düsseldorf, dann in
Rheinmagen (Remagen). "Mögen doch wol die beiden Gemeinen sich besser
um die Ehre den Heiligen zu besitzen vertragen, als neulich zwei Municipa¬
litäten in Frankreich, welche blutigen Krieg um Voltaires Ueberbleibsel wür¬
den geführt haben, wenn nicht die eine seinen Leib, die andere sein Herz
-- Voltaires Herz! -- davon getragen Hütte. O ihr, die ihr hohnlachen


Gegenwart Italiens zu stören, oder wenn man sich doch um die sittlichen,
religiösen und politischen Zustände des Landes kümmerte, so wurden sie in
der Regel mit der objectiven Ruhe betrachtet, mit der der Antiquar oder der
Naturforscher seinen Gegenstand zergliedert. Höchstens machte sich hin und
wieder das protestantische Bewußtsein gegenüber den Mißbräuchen des Katho¬
licismus geltend. Aus diesem behaglichen Zustand wurden die Gemüther
durch die welterschütternden Umwälzungen in Frankreich aufgeschreckt. Ein
grelles Licht war nun plötzlich aus Gebiete gefallen, auf die man früher die
Augen zu richten theils verschmäht, theils nicht gewagt hatte. Die Bedeu¬
tung der Vorgänge im politischen und religiösen Leben der Völker drängte
sich nun mit Gewalt auch dem widerwilligen Blick auf, und wenn die Auffas¬
sung je nach dem Standpunkt des Betrachters verschieden, ja entgegengesetzt
war, so traten nun die Gegensätze, die früher kaum bemerkbar waren, um so
schroffer und schärfer hervor. Die früher mit Gleichgiltigkeit betrachteten oder
geflissentlich übersehenen Zustände wurden nun Gegenstände des lebhaftesten
sittlichen Antheils, man suchte und fand ihre Gründe, nahm für und wider
Partei, entschuldigte oder verdammte. Seitdem auch Italien von der allge¬
meinen Weltbewegung ergriffen war, der classische Boden von französischen
Waffen wiederhallte, war es vollends nicht mehr möglich, sich gegen die Ge¬
genwart abzuschließen. Bald wurde auch Neapel der Schauplatz von Greueln,
die die furchtbarsten Scenen der Septembertage an Scheußlichkeit unendlich
übertrafen.

Die Reise Friedrich Leopolds von Stolberg (in Deutschland, der Schweiz,
Italien und Sicilien 1791 und 1792, erschienen 1794) ist die erste, die in
diese Periode fallt. Es ist bekannt, wie sein edles aber schwaches Gemüth,
von den Stürmen der Revolution aufs tiefste erschüttert, nach einem Halt
suchte, den es endlich in dem Dogma der alleinseligmachenden Kirche fand.
I. H. Voß hat diese Bekehrung ohne Nachsicht, aber wahr in der Schrift
„Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier" geschildert. In den italienischen
Reisen des Grafen fehlt es nicht an Aeußerungen, die den Zustand seiner
Seele verrathen. Er betont zwar mehrmals seinen Protestantismus, aber
wenn er sich mißbilligend über einen katholischen Aberglauben äußert, so ge¬
schieht es nie ohne eine noch stärkere Verdammung des Voltairischen „Köhler¬
unglaubens" (ein Lieblingsausdruck) hinzuzufügen. Auf der Hinreise sah er
dle Gebeine des heiligen Apollinaris zweimal, zuerst in Düsseldorf, dann in
Rheinmagen (Remagen). „Mögen doch wol die beiden Gemeinen sich besser
um die Ehre den Heiligen zu besitzen vertragen, als neulich zwei Municipa¬
litäten in Frankreich, welche blutigen Krieg um Voltaires Ueberbleibsel wür¬
den geführt haben, wenn nicht die eine seinen Leib, die andere sein Herz
— Voltaires Herz! — davon getragen Hütte. O ihr, die ihr hohnlachen


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[0344] Gegenwart Italiens zu stören, oder wenn man sich doch um die sittlichen, religiösen und politischen Zustände des Landes kümmerte, so wurden sie in der Regel mit der objectiven Ruhe betrachtet, mit der der Antiquar oder der Naturforscher seinen Gegenstand zergliedert. Höchstens machte sich hin und wieder das protestantische Bewußtsein gegenüber den Mißbräuchen des Katho¬ licismus geltend. Aus diesem behaglichen Zustand wurden die Gemüther durch die welterschütternden Umwälzungen in Frankreich aufgeschreckt. Ein grelles Licht war nun plötzlich aus Gebiete gefallen, auf die man früher die Augen zu richten theils verschmäht, theils nicht gewagt hatte. Die Bedeu¬ tung der Vorgänge im politischen und religiösen Leben der Völker drängte sich nun mit Gewalt auch dem widerwilligen Blick auf, und wenn die Auffas¬ sung je nach dem Standpunkt des Betrachters verschieden, ja entgegengesetzt war, so traten nun die Gegensätze, die früher kaum bemerkbar waren, um so schroffer und schärfer hervor. Die früher mit Gleichgiltigkeit betrachteten oder geflissentlich übersehenen Zustände wurden nun Gegenstände des lebhaftesten sittlichen Antheils, man suchte und fand ihre Gründe, nahm für und wider Partei, entschuldigte oder verdammte. Seitdem auch Italien von der allge¬ meinen Weltbewegung ergriffen war, der classische Boden von französischen Waffen wiederhallte, war es vollends nicht mehr möglich, sich gegen die Ge¬ genwart abzuschließen. Bald wurde auch Neapel der Schauplatz von Greueln, die die furchtbarsten Scenen der Septembertage an Scheußlichkeit unendlich übertrafen. Die Reise Friedrich Leopolds von Stolberg (in Deutschland, der Schweiz, Italien und Sicilien 1791 und 1792, erschienen 1794) ist die erste, die in diese Periode fallt. Es ist bekannt, wie sein edles aber schwaches Gemüth, von den Stürmen der Revolution aufs tiefste erschüttert, nach einem Halt suchte, den es endlich in dem Dogma der alleinseligmachenden Kirche fand. I. H. Voß hat diese Bekehrung ohne Nachsicht, aber wahr in der Schrift „Wie ward Fritz Stolberg ein Unfreier" geschildert. In den italienischen Reisen des Grafen fehlt es nicht an Aeußerungen, die den Zustand seiner Seele verrathen. Er betont zwar mehrmals seinen Protestantismus, aber wenn er sich mißbilligend über einen katholischen Aberglauben äußert, so ge¬ schieht es nie ohne eine noch stärkere Verdammung des Voltairischen „Köhler¬ unglaubens" (ein Lieblingsausdruck) hinzuzufügen. Auf der Hinreise sah er dle Gebeine des heiligen Apollinaris zweimal, zuerst in Düsseldorf, dann in Rheinmagen (Remagen). „Mögen doch wol die beiden Gemeinen sich besser um die Ehre den Heiligen zu besitzen vertragen, als neulich zwei Municipa¬ litäten in Frankreich, welche blutigen Krieg um Voltaires Ueberbleibsel wür¬ den geführt haben, wenn nicht die eine seinen Leib, die andere sein Herz — Voltaires Herz! — davon getragen Hütte. O ihr, die ihr hohnlachen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/344>, abgerufen am 26.07.2024.