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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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ren Natur in ihrem höchsten Stadium von Stufe zu Stufe verfolgen läßt,
noch insofern sie uns einen unschätzbaren Einblick in die Werkstatt eines weit¬
umfassenden, rastlos schaffenden Geistes gewährt. Wer hätte nicht die allsei¬
tige Kraft bewundert, mit welcher der Dichter zu neuem Leben geboren, Natur
und Kunst erfaßte und durchdrang und während der Aufnahme und Verar¬
beitung der zuströmenden Eindrücke eine Reihe seiner größten Werke zu schas¬
sen und zu vollenden vermochte. Wen hätte nicht die köstliche Frische dieser
unmittelbaren Herzensergießungen entzückt, wen nicht mit Liebe und Verehrung
sür die Tiefe und Reinheit dieses Gemüths erfüllt, das alles Angeschaute,
verklärt und gleich einem Zauberspiegel jedes Bild verschönert zurückstrahlt?
Hier beschäftigen wir uns nur mit den Zwecken seiner italienischen Reise, wir
fragen nur, was Goethe in Italien suchte und sand, erstrebte und erreichte,
und was er verschmähte oder unbeachtet ließ. Auch hier erscheint er nicht außer¬
ordentlich durch seine eigne Natur, sondern mehrfach durch die Einflüsse seiner Zeit
bestimmt, denen kein Lebender sich entziehen kann. Diese Richtungen haben sich
zum Theil überlebt und vieles erscheint uns heute als werthlos, was damals
eifrig erstrebt wurde, vieles als wichtig und bedeutend, was damals als nichtig
galt> Aber auch wo wir Goethe auf Irrwegen zu sehen glauben, bleibt uns
der heilige Ernst, mit dem er überall nach Wahrheit strebte, verehrungswürdig.

Was von den ältern Reisen in Italien gesagt worden ist. daß Rom ihr
eigentliches Ziel war, gilt noch mehr von der Göthes. Sein Aufenthalt in
Rom dauerte vom 1. November 1786 bis zum 22. April 178S. unterbrochen
durch die Reise nach Neapel und Sicilien. auf der er vierthalb Monate ab¬
wesend war. Rom war der einzige Ort in der Welt, der ihm die Begriffe geben
konnte, die ihm als die höchsten galten. Bei seiner Reise bis dahin denkt
man an die Sage vom Magnetberg, der die Schiffe unaufhaltsam an sich
reißt, sobald sie in den Bereich seiner Anziehungskraft gerathen, so daß die
Geschwindigkeit ihres Laufs mit der zunehmenden Nähe des Ziels immer
wächst. In Oberitalien reiste er nicht nur ohne Uebereilung. sondern auch
mit der ganzen Gewissenhaftigkeit eines sorgfältigen Reisenden , theils weil
seine heiße Sehnsucht nach dem Süden hier eine vorläufige Befriedigung fand,
theils weil ihn die Fülle der antiken Reste und neuern Kunstwerke in den
Städten Oberitaliens fesselte. In Venedig war er vom 23. September bis
14. October. Kaum hatte er es aber verlassen, so war auch seine Ruhe ver¬
loren und er fühlte sich mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts gezogen. In
Bologna verweilte er drei Tage, dann aber eilte er unaufhaltsam weiter;
weder Naturschönheiten ersten Ranges, noch historisch bedeutende Punkte, noch
merkwürdige Denkmäler vermochten ihn auszuhalten. Er war in Temi, ohne
den weltberühmten Wasserfall zu sehn, kaum begreift man, daß er Florenz in
wenigen Stunden durchlief. Endlich in Rom wagte er dem Vollgefühl des


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ren Natur in ihrem höchsten Stadium von Stufe zu Stufe verfolgen läßt,
noch insofern sie uns einen unschätzbaren Einblick in die Werkstatt eines weit¬
umfassenden, rastlos schaffenden Geistes gewährt. Wer hätte nicht die allsei¬
tige Kraft bewundert, mit welcher der Dichter zu neuem Leben geboren, Natur
und Kunst erfaßte und durchdrang und während der Aufnahme und Verar¬
beitung der zuströmenden Eindrücke eine Reihe seiner größten Werke zu schas¬
sen und zu vollenden vermochte. Wen hätte nicht die köstliche Frische dieser
unmittelbaren Herzensergießungen entzückt, wen nicht mit Liebe und Verehrung
sür die Tiefe und Reinheit dieses Gemüths erfüllt, das alles Angeschaute,
verklärt und gleich einem Zauberspiegel jedes Bild verschönert zurückstrahlt?
Hier beschäftigen wir uns nur mit den Zwecken seiner italienischen Reise, wir
fragen nur, was Goethe in Italien suchte und sand, erstrebte und erreichte,
und was er verschmähte oder unbeachtet ließ. Auch hier erscheint er nicht außer¬
ordentlich durch seine eigne Natur, sondern mehrfach durch die Einflüsse seiner Zeit
bestimmt, denen kein Lebender sich entziehen kann. Diese Richtungen haben sich
zum Theil überlebt und vieles erscheint uns heute als werthlos, was damals
eifrig erstrebt wurde, vieles als wichtig und bedeutend, was damals als nichtig
galt> Aber auch wo wir Goethe auf Irrwegen zu sehen glauben, bleibt uns
der heilige Ernst, mit dem er überall nach Wahrheit strebte, verehrungswürdig.

Was von den ältern Reisen in Italien gesagt worden ist. daß Rom ihr
eigentliches Ziel war, gilt noch mehr von der Göthes. Sein Aufenthalt in
Rom dauerte vom 1. November 1786 bis zum 22. April 178S. unterbrochen
durch die Reise nach Neapel und Sicilien. auf der er vierthalb Monate ab¬
wesend war. Rom war der einzige Ort in der Welt, der ihm die Begriffe geben
konnte, die ihm als die höchsten galten. Bei seiner Reise bis dahin denkt
man an die Sage vom Magnetberg, der die Schiffe unaufhaltsam an sich
reißt, sobald sie in den Bereich seiner Anziehungskraft gerathen, so daß die
Geschwindigkeit ihres Laufs mit der zunehmenden Nähe des Ziels immer
wächst. In Oberitalien reiste er nicht nur ohne Uebereilung. sondern auch
mit der ganzen Gewissenhaftigkeit eines sorgfältigen Reisenden , theils weil
seine heiße Sehnsucht nach dem Süden hier eine vorläufige Befriedigung fand,
theils weil ihn die Fülle der antiken Reste und neuern Kunstwerke in den
Städten Oberitaliens fesselte. In Venedig war er vom 23. September bis
14. October. Kaum hatte er es aber verlassen, so war auch seine Ruhe ver¬
loren und er fühlte sich mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts gezogen. In
Bologna verweilte er drei Tage, dann aber eilte er unaufhaltsam weiter;
weder Naturschönheiten ersten Ranges, noch historisch bedeutende Punkte, noch
merkwürdige Denkmäler vermochten ihn auszuhalten. Er war in Temi, ohne
den weltberühmten Wasserfall zu sehn, kaum begreift man, daß er Florenz in
wenigen Stunden durchlief. Endlich in Rom wagte er dem Vollgefühl des


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[0307] ren Natur in ihrem höchsten Stadium von Stufe zu Stufe verfolgen läßt, noch insofern sie uns einen unschätzbaren Einblick in die Werkstatt eines weit¬ umfassenden, rastlos schaffenden Geistes gewährt. Wer hätte nicht die allsei¬ tige Kraft bewundert, mit welcher der Dichter zu neuem Leben geboren, Natur und Kunst erfaßte und durchdrang und während der Aufnahme und Verar¬ beitung der zuströmenden Eindrücke eine Reihe seiner größten Werke zu schas¬ sen und zu vollenden vermochte. Wen hätte nicht die köstliche Frische dieser unmittelbaren Herzensergießungen entzückt, wen nicht mit Liebe und Verehrung sür die Tiefe und Reinheit dieses Gemüths erfüllt, das alles Angeschaute, verklärt und gleich einem Zauberspiegel jedes Bild verschönert zurückstrahlt? Hier beschäftigen wir uns nur mit den Zwecken seiner italienischen Reise, wir fragen nur, was Goethe in Italien suchte und sand, erstrebte und erreichte, und was er verschmähte oder unbeachtet ließ. Auch hier erscheint er nicht außer¬ ordentlich durch seine eigne Natur, sondern mehrfach durch die Einflüsse seiner Zeit bestimmt, denen kein Lebender sich entziehen kann. Diese Richtungen haben sich zum Theil überlebt und vieles erscheint uns heute als werthlos, was damals eifrig erstrebt wurde, vieles als wichtig und bedeutend, was damals als nichtig galt> Aber auch wo wir Goethe auf Irrwegen zu sehen glauben, bleibt uns der heilige Ernst, mit dem er überall nach Wahrheit strebte, verehrungswürdig. Was von den ältern Reisen in Italien gesagt worden ist. daß Rom ihr eigentliches Ziel war, gilt noch mehr von der Göthes. Sein Aufenthalt in Rom dauerte vom 1. November 1786 bis zum 22. April 178S. unterbrochen durch die Reise nach Neapel und Sicilien. auf der er vierthalb Monate ab¬ wesend war. Rom war der einzige Ort in der Welt, der ihm die Begriffe geben konnte, die ihm als die höchsten galten. Bei seiner Reise bis dahin denkt man an die Sage vom Magnetberg, der die Schiffe unaufhaltsam an sich reißt, sobald sie in den Bereich seiner Anziehungskraft gerathen, so daß die Geschwindigkeit ihres Laufs mit der zunehmenden Nähe des Ziels immer wächst. In Oberitalien reiste er nicht nur ohne Uebereilung. sondern auch mit der ganzen Gewissenhaftigkeit eines sorgfältigen Reisenden , theils weil seine heiße Sehnsucht nach dem Süden hier eine vorläufige Befriedigung fand, theils weil ihn die Fülle der antiken Reste und neuern Kunstwerke in den Städten Oberitaliens fesselte. In Venedig war er vom 23. September bis 14. October. Kaum hatte er es aber verlassen, so war auch seine Ruhe ver¬ loren und er fühlte sich mit unwiderstehlicher Gewalt vorwärts gezogen. In Bologna verweilte er drei Tage, dann aber eilte er unaufhaltsam weiter; weder Naturschönheiten ersten Ranges, noch historisch bedeutende Punkte, noch merkwürdige Denkmäler vermochten ihn auszuhalten. Er war in Temi, ohne den weltberühmten Wasserfall zu sehn, kaum begreift man, daß er Florenz in wenigen Stunden durchlief. Endlich in Rom wagte er dem Vollgefühl des 38*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/307>, abgerufen am 25.07.2024.