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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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lien). Am Schlüsse jeder Stadtbcschreibung folgt eine Schilderung der Lebens¬
art, Sitten und gesellschaftlichen Zustände, wobei es auch an Anekdoten nicht fehlt.
Im Ganzen aber ist die Absicht keineswegs auf Unterhaltung, sondern auf
Belehrung des Lesers gerichtet. Keyßler ist ein guter Beobachter und gewissen¬
hafter Erzähler: seine gelegentlichen Scherze über Reliquienverehrung und andre
katholische Dinge, die Volkmann rügt, sind höchst harmlos und unschuldig.
Seine persönliche Empfindung tritt nur ausnahmsweise hervor, es fehlt ihm
keineswegs an lebhaftem und warmem Gefühl für die Schönheiten der Na¬
tur und Kunst, er äußert es aber stets in der bedächtigen, gemessenen und
steifen Weise, die damals für anständig galt.

Winckelmanns Aufenthalt in Rom (1755--1768) regte in Deutschland
die Sehnsucht nach Italien für die nächsten Jahrzehnte mächtig auf. - Schon
seine ersten kleinern Schriften zündeten in weiten Kreisen, man vernahm die
Kunde von seinem "hohen Kunstleben" in Rom aus den Briefen an seine
Freunde, wie Goethe in seinem Leben erzählt, vor allem weckte seine Geschichte
der Kunst (1763) einen neuen Enthusiasmus für die Heimath der schönen
Künste. Ein Hamburger, der das Glück gehabt hatte, Winckelmanns Bekannt¬
schaft zu machen und in seiner Gesellschaft die Tempel von Pästum zu besuchen,
Dr. Volkmann gab 1770 ein neues Werk über Italien heraus: Historisch¬
kritische Nachrichten von Italien u. s. w., drei sehr starke Octavbände.
Das Buch wurde an der Stelle des Keyßlerschen das gangbarste Reisehand¬
buch über Italien und blieb es bis zum Ende des Jahrhunderts, auch Goethe
hat sich seiner bedient. Form und Anordnung sind ganz wie bei Keyßler:
man erfährt kaum, daß der Verfasser Italien selbst gesehen hat, obwol er
nicht weniger als anderthalb Jahre dort war. Heutzutage wird der dritte
Theil dieser Zeit sür genügend erachtet, um die Welt mit einem neuen Buch
über Italien zu beglücken, ohne daß man sich viel darum kümmert, was an¬
dere vorher geschrieben haben. Volkmann hat daher alle frühern Reisebeschrei-
bungen sorgfältig studirt und benutzt, ja er ist bescheiden genug gewesen, ein
französisches Werk von la Lande dem seinigen zu Grunde zu legen. "Da die
Behebung der Kunst und vorzüglich der Gemälde." sagt er, "bei den meisten eine
Hauptursache der Reise nach Italien ist, so haben wir uns auch am ausführlich¬
sten dabei aufgehalten." Bei den bedeutenderen Antiken werden die betreffen¬
den Stellen aus Winckelmann citirt. In Bezug auf die Kunst ist der Ver¬
fasser natürlich ganz im Geschmack jener Zeit befangen, welche gothisch und
barbarisch für identisch hielt, das Mittelalter verachtete oder ignorirte und die
Wiedergeburt der Künste von Rafael datirte. Vom Mailänder Dom sagt er
(I. 242): "Inwendig ist die Kirche ganz im gothischen Geschmack wie die
Kathedralkirchen in Paris, Straßburg, Pavia und andern Städten. Diese
großen Gebäude haben wegen der spitzig zulaufenden Bogen nicht so viel Festig'


lien). Am Schlüsse jeder Stadtbcschreibung folgt eine Schilderung der Lebens¬
art, Sitten und gesellschaftlichen Zustände, wobei es auch an Anekdoten nicht fehlt.
Im Ganzen aber ist die Absicht keineswegs auf Unterhaltung, sondern auf
Belehrung des Lesers gerichtet. Keyßler ist ein guter Beobachter und gewissen¬
hafter Erzähler: seine gelegentlichen Scherze über Reliquienverehrung und andre
katholische Dinge, die Volkmann rügt, sind höchst harmlos und unschuldig.
Seine persönliche Empfindung tritt nur ausnahmsweise hervor, es fehlt ihm
keineswegs an lebhaftem und warmem Gefühl für die Schönheiten der Na¬
tur und Kunst, er äußert es aber stets in der bedächtigen, gemessenen und
steifen Weise, die damals für anständig galt.

Winckelmanns Aufenthalt in Rom (1755—1768) regte in Deutschland
die Sehnsucht nach Italien für die nächsten Jahrzehnte mächtig auf. - Schon
seine ersten kleinern Schriften zündeten in weiten Kreisen, man vernahm die
Kunde von seinem „hohen Kunstleben" in Rom aus den Briefen an seine
Freunde, wie Goethe in seinem Leben erzählt, vor allem weckte seine Geschichte
der Kunst (1763) einen neuen Enthusiasmus für die Heimath der schönen
Künste. Ein Hamburger, der das Glück gehabt hatte, Winckelmanns Bekannt¬
schaft zu machen und in seiner Gesellschaft die Tempel von Pästum zu besuchen,
Dr. Volkmann gab 1770 ein neues Werk über Italien heraus: Historisch¬
kritische Nachrichten von Italien u. s. w., drei sehr starke Octavbände.
Das Buch wurde an der Stelle des Keyßlerschen das gangbarste Reisehand¬
buch über Italien und blieb es bis zum Ende des Jahrhunderts, auch Goethe
hat sich seiner bedient. Form und Anordnung sind ganz wie bei Keyßler:
man erfährt kaum, daß der Verfasser Italien selbst gesehen hat, obwol er
nicht weniger als anderthalb Jahre dort war. Heutzutage wird der dritte
Theil dieser Zeit sür genügend erachtet, um die Welt mit einem neuen Buch
über Italien zu beglücken, ohne daß man sich viel darum kümmert, was an¬
dere vorher geschrieben haben. Volkmann hat daher alle frühern Reisebeschrei-
bungen sorgfältig studirt und benutzt, ja er ist bescheiden genug gewesen, ein
französisches Werk von la Lande dem seinigen zu Grunde zu legen. „Da die
Behebung der Kunst und vorzüglich der Gemälde." sagt er, „bei den meisten eine
Hauptursache der Reise nach Italien ist, so haben wir uns auch am ausführlich¬
sten dabei aufgehalten." Bei den bedeutenderen Antiken werden die betreffen¬
den Stellen aus Winckelmann citirt. In Bezug auf die Kunst ist der Ver¬
fasser natürlich ganz im Geschmack jener Zeit befangen, welche gothisch und
barbarisch für identisch hielt, das Mittelalter verachtete oder ignorirte und die
Wiedergeburt der Künste von Rafael datirte. Vom Mailänder Dom sagt er
(I. 242): „Inwendig ist die Kirche ganz im gothischen Geschmack wie die
Kathedralkirchen in Paris, Straßburg, Pavia und andern Städten. Diese
großen Gebäude haben wegen der spitzig zulaufenden Bogen nicht so viel Festig'


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/302>, abgerufen am 05.07.2024.