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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Wegs aller Begründung entbehren. Man sieht an der auswärtigen Politik,
an dem Entwurf eines großen Eisenbahnnetzes, an den Versuchen die Leib¬
eigenschaft aufzuheben, daß jetzt eine andere Hand den Zügel führt; man
sieht es aber auch an der Presse. Die oben genannten Bücher sind zwar im
Ausland gedruckt, aber die Mehrzahl derselben haben einen russischen Staats¬
rath zum Versasser, das eine ist sogar dem Kaiser gewidmet, und wenn man
die Freimüthigkeit betrachtet, mit der über höchste und allerhöchste Personen
gesprochen wird, wahrend es bis jetzt z. B. als ein Majestätsverbrechen galt,
wenn ein Geschichtschreiber daran zweifelte, daß alle russischen Kaiser eines
natürlichen Todes gestorben, so kann man sich nicht darüber wundern, daß
die neuen Schriftsteller etwas den Mund voll nehmen. Wie dem auch sei,
die Aufhellung jener merkwürdigen Perioden durch urkundliche Zeugnisse ist
für unsere Geschichtskenntniß ein unberechenbarer Gewinn, und mehr als das,
denn wir lernen durch die detaillirte Zeichnung jene seltsame Mischung asia¬
tischer Wildheit und moderner Civilisation versteh", die doch noch einmal in
der allgemeinen Geschichte eine nicht unbedeutende Rolle spielen dürfte.

Wir haben uns über die drei ersten Bände von Siepers' Leben bereits
ausführlich ausgesprochen; der vierte Band, mit dem das Werk geschlossen
ist, enthält des Interessanten noch sehr viel. Der Verfasser gibt in demselben
auch eine Charakteristik der Kaiserin Katharina II. und ihres Sohnes,
deren Werth freilich weniger in den eignen Reflexionen als in den mitgetheilten
Belegen liegt. Wenn er Katharina eine echt deutsche Natur nennt, so fühlen
wir uns versucht, drei Kreuze zu schlagen; aber folgende Erklärung des Kanz¬
lers Woronzow, die sich noch aus der Zeit vor ihrer Thronbesteigung her¬
schreibt, leuchtet uns vollkommen ein: "Die Großfürstin ist romanhaft, leiden¬
schaftlich, sie hat ein glänzendes Auge und den Blick eines wilden Thiers.
Ihre Stirne ist hoch und irre ich mich nicht, so steht auf dieser Stirn eine
lange und furchtbare Zukunft geschrieben. Sie ist zuvorkommend, freundlich,
nähert sie sich mir aber, so bebe ich zurück aus einem Jnstinct, dessen ich nicht
Herr werden kann. Ihre Hand kommt mir wie eine Tigerkralle vor, ihr
ewig lächelnder Mund ist verzerrt, macht mir Furcht, sein Lachen verwundet
wie eine Drohung." Noch bezeichnender sind die Charakterzüge von Kaiser
Paul.

Das Heer konnte ihm keiner zu Dank einüben, als er selbst. Er war
darin der größte Kleinmeister, uni> mochte sich und die Truppen Tage lang
mit seinem Kamaschendienst abplagen. Als er einstmals ein Reiterregiment
lange eingeübt, siel ihm ein, demselben in gestrecktem Galopp nach einem Ziel
vvrauszuspreugen. Seis nun, daß er im Eifer Befehl zu geben vergessen, oder
der Oberst ihn nicht gehört hatte, der Kaiser rief plötzlich Halt, und bemerkte
nun mit Verdruß, daß ihm niemand gefolgt war. Wüthend kehrte er um


Wegs aller Begründung entbehren. Man sieht an der auswärtigen Politik,
an dem Entwurf eines großen Eisenbahnnetzes, an den Versuchen die Leib¬
eigenschaft aufzuheben, daß jetzt eine andere Hand den Zügel führt; man
sieht es aber auch an der Presse. Die oben genannten Bücher sind zwar im
Ausland gedruckt, aber die Mehrzahl derselben haben einen russischen Staats¬
rath zum Versasser, das eine ist sogar dem Kaiser gewidmet, und wenn man
die Freimüthigkeit betrachtet, mit der über höchste und allerhöchste Personen
gesprochen wird, wahrend es bis jetzt z. B. als ein Majestätsverbrechen galt,
wenn ein Geschichtschreiber daran zweifelte, daß alle russischen Kaiser eines
natürlichen Todes gestorben, so kann man sich nicht darüber wundern, daß
die neuen Schriftsteller etwas den Mund voll nehmen. Wie dem auch sei,
die Aufhellung jener merkwürdigen Perioden durch urkundliche Zeugnisse ist
für unsere Geschichtskenntniß ein unberechenbarer Gewinn, und mehr als das,
denn wir lernen durch die detaillirte Zeichnung jene seltsame Mischung asia¬
tischer Wildheit und moderner Civilisation versteh», die doch noch einmal in
der allgemeinen Geschichte eine nicht unbedeutende Rolle spielen dürfte.

Wir haben uns über die drei ersten Bände von Siepers' Leben bereits
ausführlich ausgesprochen; der vierte Band, mit dem das Werk geschlossen
ist, enthält des Interessanten noch sehr viel. Der Verfasser gibt in demselben
auch eine Charakteristik der Kaiserin Katharina II. und ihres Sohnes,
deren Werth freilich weniger in den eignen Reflexionen als in den mitgetheilten
Belegen liegt. Wenn er Katharina eine echt deutsche Natur nennt, so fühlen
wir uns versucht, drei Kreuze zu schlagen; aber folgende Erklärung des Kanz¬
lers Woronzow, die sich noch aus der Zeit vor ihrer Thronbesteigung her¬
schreibt, leuchtet uns vollkommen ein: „Die Großfürstin ist romanhaft, leiden¬
schaftlich, sie hat ein glänzendes Auge und den Blick eines wilden Thiers.
Ihre Stirne ist hoch und irre ich mich nicht, so steht auf dieser Stirn eine
lange und furchtbare Zukunft geschrieben. Sie ist zuvorkommend, freundlich,
nähert sie sich mir aber, so bebe ich zurück aus einem Jnstinct, dessen ich nicht
Herr werden kann. Ihre Hand kommt mir wie eine Tigerkralle vor, ihr
ewig lächelnder Mund ist verzerrt, macht mir Furcht, sein Lachen verwundet
wie eine Drohung." Noch bezeichnender sind die Charakterzüge von Kaiser
Paul.

Das Heer konnte ihm keiner zu Dank einüben, als er selbst. Er war
darin der größte Kleinmeister, uni> mochte sich und die Truppen Tage lang
mit seinem Kamaschendienst abplagen. Als er einstmals ein Reiterregiment
lange eingeübt, siel ihm ein, demselben in gestrecktem Galopp nach einem Ziel
vvrauszuspreugen. Seis nun, daß er im Eifer Befehl zu geben vergessen, oder
der Oberst ihn nicht gehört hatte, der Kaiser rief plötzlich Halt, und bemerkte
nun mit Verdruß, daß ihm niemand gefolgt war. Wüthend kehrte er um


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[0263] Wegs aller Begründung entbehren. Man sieht an der auswärtigen Politik, an dem Entwurf eines großen Eisenbahnnetzes, an den Versuchen die Leib¬ eigenschaft aufzuheben, daß jetzt eine andere Hand den Zügel führt; man sieht es aber auch an der Presse. Die oben genannten Bücher sind zwar im Ausland gedruckt, aber die Mehrzahl derselben haben einen russischen Staats¬ rath zum Versasser, das eine ist sogar dem Kaiser gewidmet, und wenn man die Freimüthigkeit betrachtet, mit der über höchste und allerhöchste Personen gesprochen wird, wahrend es bis jetzt z. B. als ein Majestätsverbrechen galt, wenn ein Geschichtschreiber daran zweifelte, daß alle russischen Kaiser eines natürlichen Todes gestorben, so kann man sich nicht darüber wundern, daß die neuen Schriftsteller etwas den Mund voll nehmen. Wie dem auch sei, die Aufhellung jener merkwürdigen Perioden durch urkundliche Zeugnisse ist für unsere Geschichtskenntniß ein unberechenbarer Gewinn, und mehr als das, denn wir lernen durch die detaillirte Zeichnung jene seltsame Mischung asia¬ tischer Wildheit und moderner Civilisation versteh», die doch noch einmal in der allgemeinen Geschichte eine nicht unbedeutende Rolle spielen dürfte. Wir haben uns über die drei ersten Bände von Siepers' Leben bereits ausführlich ausgesprochen; der vierte Band, mit dem das Werk geschlossen ist, enthält des Interessanten noch sehr viel. Der Verfasser gibt in demselben auch eine Charakteristik der Kaiserin Katharina II. und ihres Sohnes, deren Werth freilich weniger in den eignen Reflexionen als in den mitgetheilten Belegen liegt. Wenn er Katharina eine echt deutsche Natur nennt, so fühlen wir uns versucht, drei Kreuze zu schlagen; aber folgende Erklärung des Kanz¬ lers Woronzow, die sich noch aus der Zeit vor ihrer Thronbesteigung her¬ schreibt, leuchtet uns vollkommen ein: „Die Großfürstin ist romanhaft, leiden¬ schaftlich, sie hat ein glänzendes Auge und den Blick eines wilden Thiers. Ihre Stirne ist hoch und irre ich mich nicht, so steht auf dieser Stirn eine lange und furchtbare Zukunft geschrieben. Sie ist zuvorkommend, freundlich, nähert sie sich mir aber, so bebe ich zurück aus einem Jnstinct, dessen ich nicht Herr werden kann. Ihre Hand kommt mir wie eine Tigerkralle vor, ihr ewig lächelnder Mund ist verzerrt, macht mir Furcht, sein Lachen verwundet wie eine Drohung." Noch bezeichnender sind die Charakterzüge von Kaiser Paul. Das Heer konnte ihm keiner zu Dank einüben, als er selbst. Er war darin der größte Kleinmeister, uni> mochte sich und die Truppen Tage lang mit seinem Kamaschendienst abplagen. Als er einstmals ein Reiterregiment lange eingeübt, siel ihm ein, demselben in gestrecktem Galopp nach einem Ziel vvrauszuspreugen. Seis nun, daß er im Eifer Befehl zu geben vergessen, oder der Oberst ihn nicht gehört hatte, der Kaiser rief plötzlich Halt, und bemerkte nun mit Verdruß, daß ihm niemand gefolgt war. Wüthend kehrte er um

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/263>, abgerufen am 30.06.2024.