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Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band.

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Nationalität beschränkt geblieben. Aber Bürger und Bauer allein machen es
nicht aus. Beschränkung der Ethnographie auf diese mahnt an die Dorfgeschich¬
ten, wenn diese für die souveräne Gattung der Novelle gelten wollen. Wie aber
diese sich ungemeiner Gunst erfreuen, so haben ethnographische Zeichnungen
sich vor allen gern mit Gebräuchen und Sitten des Familienlebens, Braut-
Werbung. Hochzeit, Geburth- und Begräbnißfeier u. f. w. beschäftigt und die
naturhistorische Ethnographie hat sich mit dergleichen als Beiwerk ausgestattet.
Es ist wahr, das Nationale individualisirt sich hier am meisten. Es hat
seine Nachhaltigkeit selten kraft ursprünglich naturgebotener Bedingungen; aber
diese haben eine Hilfsmacht in der Gewohnheit, und Gewohnheit kann zur
andern Natur werden. Manches reicht allerdings hoch ins Alterthum hinauf.
norddeutsche Bauern trieben noch vor kurzem die Schweine zur Abwehr der
Bräune durch ein Feuer, das durch Reibung von- Hölzern sich entzün¬
det hatte -- das altsächsische Niedfeor; in Frankreich werden hier und da
zu gewissen Zeiten Katzen verbrannt -- vielleicht eine Erinnerung an die
Menschenopfer der heidnischen Gallier. Wohl ist von dergleichen das Locale
zu unterscheiden, das durch zufällige Ereignisse ohne nationalen Trieb Brauch
geworden ist, so die zahllosen Denkfeiern von Wasser- und Feuersnoth
u.s. w. Verweilen wir bei der niederen Sphäre des Nationallebens, so gibt
die Speiseordnung eine Menge Beispiele, die spanische Olla Potrida, der
westphälische Pumpernickel, der Marschkloß der Dithmarsen, die süddeutsche
Dampfnudel, die italienischen Maccaroni und Polenta, das östreichische Back-
hähnel, der schottische Haferbrei, die russische Schtschi u. s. w. Wir verfolgen
dies nicht weiter mit Anführungen von nationalen und provinzialen Trachten '
und Häuserbauten u. s. w. Bei weitem mehr besagt der Ton des geistig-
sittlichen Lebens, von dem man gewöhnlich die Grundzüge des National¬
charakters entnommen hat. Liebe, Ehe und Familienton geben die bedeut¬
samsten Nuancen innerhalb des gemeinsamen Kreises der Civilisation zu er¬
kennen; die Thorheiten des Liebesrausches sind bei dem Engländer anders
als bei dem Spanier; die deutsche Hausfrau ist einzig in ihrer Art. So be¬
haupten sich unter den drastischesten Einwirkungen der Civilisation oder auch ihres
Widerspiels der englische Spleen, die englischen Whims und Oddities. so im Verkehr
die chinesische und italienische Pfiffigkeit, die rastlose Geldmächesucht des Yankee
u. s. w. Aber auch in den staatlichen Gestaltungen, die vom Naturwüchsigen
sich am meisten entfernen, ist nicht geringe Ausbeute. Allerdings hat hier
das Nationale den allgemeinen Einflüssen der Cultur sich dergestalt unter¬
worfen, daß das Eigenthümliche selten unberührt davon geblieben und fast
nur als Modalität jenes zu fassen ist. Je freier aber die Vernunstthütigkeit
in diesen Gebieten sich über die Naturbedingungen erhebt, um so bedeutsamer
wird das Nationale, das einer universellen Nivellirung zu widerstreben ver-


Nationalität beschränkt geblieben. Aber Bürger und Bauer allein machen es
nicht aus. Beschränkung der Ethnographie auf diese mahnt an die Dorfgeschich¬
ten, wenn diese für die souveräne Gattung der Novelle gelten wollen. Wie aber
diese sich ungemeiner Gunst erfreuen, so haben ethnographische Zeichnungen
sich vor allen gern mit Gebräuchen und Sitten des Familienlebens, Braut-
Werbung. Hochzeit, Geburth- und Begräbnißfeier u. f. w. beschäftigt und die
naturhistorische Ethnographie hat sich mit dergleichen als Beiwerk ausgestattet.
Es ist wahr, das Nationale individualisirt sich hier am meisten. Es hat
seine Nachhaltigkeit selten kraft ursprünglich naturgebotener Bedingungen; aber
diese haben eine Hilfsmacht in der Gewohnheit, und Gewohnheit kann zur
andern Natur werden. Manches reicht allerdings hoch ins Alterthum hinauf.
norddeutsche Bauern trieben noch vor kurzem die Schweine zur Abwehr der
Bräune durch ein Feuer, das durch Reibung von- Hölzern sich entzün¬
det hatte — das altsächsische Niedfeor; in Frankreich werden hier und da
zu gewissen Zeiten Katzen verbrannt — vielleicht eine Erinnerung an die
Menschenopfer der heidnischen Gallier. Wohl ist von dergleichen das Locale
zu unterscheiden, das durch zufällige Ereignisse ohne nationalen Trieb Brauch
geworden ist, so die zahllosen Denkfeiern von Wasser- und Feuersnoth
u.s. w. Verweilen wir bei der niederen Sphäre des Nationallebens, so gibt
die Speiseordnung eine Menge Beispiele, die spanische Olla Potrida, der
westphälische Pumpernickel, der Marschkloß der Dithmarsen, die süddeutsche
Dampfnudel, die italienischen Maccaroni und Polenta, das östreichische Back-
hähnel, der schottische Haferbrei, die russische Schtschi u. s. w. Wir verfolgen
dies nicht weiter mit Anführungen von nationalen und provinzialen Trachten '
und Häuserbauten u. s. w. Bei weitem mehr besagt der Ton des geistig-
sittlichen Lebens, von dem man gewöhnlich die Grundzüge des National¬
charakters entnommen hat. Liebe, Ehe und Familienton geben die bedeut¬
samsten Nuancen innerhalb des gemeinsamen Kreises der Civilisation zu er¬
kennen; die Thorheiten des Liebesrausches sind bei dem Engländer anders
als bei dem Spanier; die deutsche Hausfrau ist einzig in ihrer Art. So be¬
haupten sich unter den drastischesten Einwirkungen der Civilisation oder auch ihres
Widerspiels der englische Spleen, die englischen Whims und Oddities. so im Verkehr
die chinesische und italienische Pfiffigkeit, die rastlose Geldmächesucht des Yankee
u. s. w. Aber auch in den staatlichen Gestaltungen, die vom Naturwüchsigen
sich am meisten entfernen, ist nicht geringe Ausbeute. Allerdings hat hier
das Nationale den allgemeinen Einflüssen der Cultur sich dergestalt unter¬
worfen, daß das Eigenthümliche selten unberührt davon geblieben und fast
nur als Modalität jenes zu fassen ist. Je freier aber die Vernunstthütigkeit
in diesen Gebieten sich über die Naturbedingungen erhebt, um so bedeutsamer
wird das Nationale, das einer universellen Nivellirung zu widerstreben ver-


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[0237] Nationalität beschränkt geblieben. Aber Bürger und Bauer allein machen es nicht aus. Beschränkung der Ethnographie auf diese mahnt an die Dorfgeschich¬ ten, wenn diese für die souveräne Gattung der Novelle gelten wollen. Wie aber diese sich ungemeiner Gunst erfreuen, so haben ethnographische Zeichnungen sich vor allen gern mit Gebräuchen und Sitten des Familienlebens, Braut- Werbung. Hochzeit, Geburth- und Begräbnißfeier u. f. w. beschäftigt und die naturhistorische Ethnographie hat sich mit dergleichen als Beiwerk ausgestattet. Es ist wahr, das Nationale individualisirt sich hier am meisten. Es hat seine Nachhaltigkeit selten kraft ursprünglich naturgebotener Bedingungen; aber diese haben eine Hilfsmacht in der Gewohnheit, und Gewohnheit kann zur andern Natur werden. Manches reicht allerdings hoch ins Alterthum hinauf. norddeutsche Bauern trieben noch vor kurzem die Schweine zur Abwehr der Bräune durch ein Feuer, das durch Reibung von- Hölzern sich entzün¬ det hatte — das altsächsische Niedfeor; in Frankreich werden hier und da zu gewissen Zeiten Katzen verbrannt — vielleicht eine Erinnerung an die Menschenopfer der heidnischen Gallier. Wohl ist von dergleichen das Locale zu unterscheiden, das durch zufällige Ereignisse ohne nationalen Trieb Brauch geworden ist, so die zahllosen Denkfeiern von Wasser- und Feuersnoth u.s. w. Verweilen wir bei der niederen Sphäre des Nationallebens, so gibt die Speiseordnung eine Menge Beispiele, die spanische Olla Potrida, der westphälische Pumpernickel, der Marschkloß der Dithmarsen, die süddeutsche Dampfnudel, die italienischen Maccaroni und Polenta, das östreichische Back- hähnel, der schottische Haferbrei, die russische Schtschi u. s. w. Wir verfolgen dies nicht weiter mit Anführungen von nationalen und provinzialen Trachten ' und Häuserbauten u. s. w. Bei weitem mehr besagt der Ton des geistig- sittlichen Lebens, von dem man gewöhnlich die Grundzüge des National¬ charakters entnommen hat. Liebe, Ehe und Familienton geben die bedeut¬ samsten Nuancen innerhalb des gemeinsamen Kreises der Civilisation zu er¬ kennen; die Thorheiten des Liebesrausches sind bei dem Engländer anders als bei dem Spanier; die deutsche Hausfrau ist einzig in ihrer Art. So be¬ haupten sich unter den drastischesten Einwirkungen der Civilisation oder auch ihres Widerspiels der englische Spleen, die englischen Whims und Oddities. so im Verkehr die chinesische und italienische Pfiffigkeit, die rastlose Geldmächesucht des Yankee u. s. w. Aber auch in den staatlichen Gestaltungen, die vom Naturwüchsigen sich am meisten entfernen, ist nicht geringe Ausbeute. Allerdings hat hier das Nationale den allgemeinen Einflüssen der Cultur sich dergestalt unter¬ worfen, daß das Eigenthümliche selten unberührt davon geblieben und fast nur als Modalität jenes zu fassen ist. Je freier aber die Vernunstthütigkeit in diesen Gebieten sich über die Naturbedingungen erhebt, um so bedeutsamer wird das Nationale, das einer universellen Nivellirung zu widerstreben ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 17, 1858, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341588_266356/237>, abgerufen am 23.07.2024.